6.3 Der Begriff des Experimentes

6.3.2 Rezeptive und produktive Interpretation

Die KERNTHESE 8. bedarf einiger Erläuterungen und Präzisierungen hinsichtlich geisteswissenschaftlicher Kernthemen. Das erste davon ist die Interpretationstheorie. Die Frage wäre, inwiefern Interpretation ein geisteswissenschaftliches Experiment ist. In seiner kunstgeschichtlichen Hermeneutik [12] hat Oskar Bätschmann ein hermeneutisches System, das "grosse abstrakt-reale Bezugssystem der Auslegung" entworfen. Darin wird die Vielfalt der Auslegungen eines Kunstwerkes in einem logisch vollständigen System8 einbeschrieben. Diese Vielfalt ist irreduzibel, d.h. es kann nicht von einer einzigen richtigen Auslegung (dem inexistenten "Einhorn der Hermeneutik" [128]) die Rede sein. Die Interpretation des Kunstwerks ist also nicht das Schauen der Wahrheit, sondern ein Prozess von Versuch und Irrtum am Werk als gegebener "Natur". Der Versuch betrifft die Konstruktion von Zeichen-Struktur, deren Bedeutung sich ins Werk einfügen muss. Das kann mehr oder weniger gut gelingen. Interpretation erfüllt damit den Tatbestand des Experimentes, weil, wie wir schon bei Eco sahen ( 6.1), eine Poppersche Falsifikationsthese, nämlich Befragung des Zeugen nach Indizien, zu erfüllen ist.

Aber der Zeuge, das Werk, ist alles andere als passsiv: Viel schärfer als in der äusseren Natur wird der Interpret selber hinterfragt nach der Konsistenz und Begründung seiner Auslegung. Denn das Werk ist schon vom Künstler aus mit Bedeutung geladen, auch wenn diese verborgen ist und nicht allein bestimmend sein kann [12], p.161. Ferner wird die Auslegung konfrontiert mit ihren Konkurrenten, der Dialog mit der inneren Natur ist auch einer mit anderen "Richtern". Sie hat mindestens so gut zu bestehen vor ihnen wie vor dem Werk selber.

Dass das Experiment der Interpretation in dramatischer Weise unendlich ist, ersieht man aus der Aufführungsinterpretation in der Poesie und, noch profilierter, der Musik. Theodor W. Adorno hat -- kongruent mit Paul Valérys berühmtem Dictum: "C'est l'exécution du poème qui est le poème." -- in seiner philosophischen Grundlegung der Musik [5] postuliert: "Die Idee der Interpretation gehört zur Musik selber und ist ihr nicht akzidentiell." Das Experiment mit dem Werk macht das Werk erst zu dem, was es ist. Dies geschieht aber in einer unendlich vielfältigen Auffächerung von Varianten der Bedeutungsgebung. Das "neutrale" Werk (siehe [142]) selber ist als Bedeutungsträger noch unvollständig. Es existiert, wenn man Adorno und Valéry folgt, noch gar nicht vollständig vor seinen Interpretationen. Diese sind Verstehensexperimente mit einem massiven Eingriffsgrad und mit einer unüberschaubaren Rückmeldungsquote des "Zeugen".

Es erscheint also Interpretation als Übersetzungsexperiment von "neutral" gegebenem Material der inneren Natur im Labor einer tief eingreifenden Verstehensarbeit. Daraus resultiert, dass, wie in den Naturwissenschaften, Interpretation als verstehende Aneignung nicht auf Eingriff am Gegenstand verzichten kann, ja, dass das Gegebene erst in der Auseinandersetzung existenzfähig und vermittelbar ist.

Man kann nun ein solches Labor des Verstehens im Sinne eines Hobbys betreiben, zum Vergnügen und Zeitvertreib. Dazu sind die Mittel und Methoden freigestellt und verweisen ganz unprätentiös ins Feuilleton. Wenn aber der Anspruch gestellt wird, die Mannigfaltigkeit der Interpretationen im logisch abgeschlossenen System eines Bätschmann, in der semiotischen Analytik eines Nattiez [142] oder im Rahmen einer exakten Interpretationslogik [129], [131], zu erfassen, dann werden Werkzeuge der Wissensdarstellung und -produktion erforderlich, die nur durch Hypermedien, wie sie dem EncycloSpace zudienen, eingelöst werden können. Näheres dazu ist in Abschnitt 7erläutert.

Wir finden uns mit diesen Ansprüchen an die Erzeugung von Wissen über ein Kunstwerk unvermittelt im Themenkomplex der Navigation auf dem EncycloSpace wieder. Interpretation kann als rezeptive Navigation nur die allereinfachsten Facetten eines Werkes einfangen. Man kann ein Musikstück etwa aus der elektronisch repräsentierten Partitur9 mechanisch "interpretieren" lassen. Als intelligente, eingreifende Interpretation muss das Werk im EncycloSpace allerdings intensiv auf produktive Weise befahren werden. Die Botschaft des Hermes ist ganz wesentlich vom Navigator abhängig, der die Botschaft an ihr Ziel fährt. Dies suggeriert die folgende Kurzform:

KERNTHESE 9. Der EncycloSpace ist das produktive Medium von Hermes.

 

ZURÜCK WEITER