3.2 Evaluation der Geisteswissenschaften in Deutschland

Ende der 80er Jahre wurde am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) und der Universität Bielefeld unter Leitung von Wolfgang Prinz und Peter Weingart im Auftrag des Bundesministeriums für Forschung und Technologie eine Evaluation der Geisteswissenschaften in der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt. Sie ist in [151] und [173] dokumentiert.

Diese Evaluation unterscheidet sich in zweifacher Hinsicht von der schweizerischen Unternehmung: Sie ist eine analytische Selbstdarstellung durch deutsche Wissenschaftler (keine ausländischen Experten), und sie betrifft nicht primär die Forschungsbedingungen, sondern auch die inhaltlichen Aspekte und die Entwicklung von Geisteswissenschaften zwischen 1945 und 1987. Zu den "Innenansichten", die in [151] von 31 Fachvertretern reportiert sind, kann man einige Anmerkungen erkennen, die dann in den Analysen in [173] im grösseren Zusammenhang signifikante Tendenzen erkennen lassen.

So diskutiert Manfred Thaller die schon seit 1962 (!) belegte Entwicklung der historischen Datenverarbeitung, wir kommen darauf in 4.7 zurück. Es interessiert in seinem Aufgabenkatalog insbesondere eine Aussage [151], p. 158, die wir in unserer Präambel zur universellen Orientierung im EncycloSpace begründet hatten: "Historische Texte unterscheiden sich von anderen darin, dass sie mehrdimensional sind.(...) Derartige Texteigenschaften sollen sowohl graphisch -- nach Art der herkömmlichen Editionstechniken -- als auch sachlich von der bearbeitenden Software interpretiert werden können."

Oskar Bätschmann schliesst zu Perspektiven der Kunstgeschichte [151], p. 214/215: "Ich gehe davon aus, dass die Bearbeitung der kunsthistoriographischen und kunstgeographischen Probleme auch deshalb dringlich ist, weil die elektronische Erfassung und Verarbeitung von Daten fortschreitet. Die Erfassung der Daten ist nicht gesteuert und geleitet von den Bedürfnissen der Kunsthistoriographie und Kunstgeographie. Für die Auswertung der Daten stehen noch keine (formalisierten) Modelle der Historiographie und Geographie zur Verfügung."

Die analytische Gesamtbetrachtung der Geisteswissenschaften ("Aussenansichten" [173]) kristallisiert sich am berühmten Referat von Odo Marquard an der Westdeutschen Rektorenkonferenz 1985, worin er seine Argumentation mit der bekannten These schliesst, "wonach die durch die experimentellen Wissenschaften vorangetriebene Modernisierung lebensweltliche Verluste verursache", zu deren Kompensation die Geisteswissenschaften beitrügen, und zwar durch Erzählen von Bewahrungs- und Orientierungsgeschichten [173], p. 31/31. Marquards Kompensationsthese ist vielfach kritisiert worden. So konterte M. Geffrath [41] : "Wenn wir immer nur weiter kompensieren (oder klagen), haben wir nicht nur bald die Grenzen des Sinns erreicht, sondern auch die des Seins." Marquards These hat indes das unbestrittene Verdienst, dass Geisteswissenschaft in Deutschland zwar nachwievor nicht auf der wissenschaftspolitischen Agenda steht, dass sie aber durch Marquards rhetorische Figur auf die Tagesordnung der Wissenschaftspolitik gesetzt worden ist [173], p. 53. Insofern ist die Lage in der Schweiz nicht ein Einzelfall (was aber nichts daran verbessert).

Auf einer Tagesordnung steht eine Geisteswissenschaft, die nicht nur reaktiv kompensiert, sondern auch einem Kontext gehorcht, der "durch individuelle und im Rahmen des Fachs durchgeführte Forschung" charakterisiert ist [173], p. 314. Die Analyse fährt fort: "Demgegenüber sind 'moderne' Formen der kooperativen, projektförmigen Forschung nach wie vor von nur marginaler Bedeutung." Es erstaunt sehr, dass diese 'modernen' Formen unter dem Stichwort der "Verwissenschaftlichung" der Geisteswissenschaften [173], p. 314/315 gekennzeichnet werden! Der Diskurs schliesst dort definitiv merkwürdig: "Kurz gesagt: auch im Rahmen der professionalisierten, forschungsorientierten Geisteswissenschaften kann sich die individuelle Forschung noch behaupten." Es ist also im Umfeld der "erzählenden, kompensativen Geisteswissenschaften" nicht selbstverständlich, dass Professionalität und Forschungsorientiertheit der Fall sind. Der Bericht endet mit einem caveat gegen wissenschaftspolitischen Interventionismus, worunter offenbar individuelle und hobbymässig betriebene Geisteswissenschaft leiden könnte.

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