1.1 Der Rahmen
Für die Lösung der zugleich geisteswissenschaftlichen und informationstechnologischen Aufgabe ergibt sich ein Kompetenzproblem, das zu thematisieren man nicht unterlassen darf. Naturgemäss kann eine solche Studie nur bewältigen, wer im Umgang mit moderner Informationstechnologie profunde Erfahrung besitzt hinsichtlich Themen geisteswissenschaftlicher Forschung. Der Autor hat als habilitierter Mathematiker seit 1980 in den Bereichen klassischer Musikwissenschaft [126], [127], Mathematischer Musiktheorie [128], [129], der Neuromusikologie [130], der Musiksemiotik [131], der Musikinformatik [132], [133], der Theorie von Musikdatenbanken [134], der musikalischen Interpretationsforschung [135] und der computergraphischen Analyse klassischer Werke der bildenden Kunst [136] geforscht und publiziert. Er konnte ferner als wissenschaftlicher Sekretär des Darmstädter Symmetrieprojekts 1984-1986 wertvolle Erfahrungen im Dialog mit Vertretern weiterer Wissenschaften sammeln [137]. Schliesslich hat seine Mitarbeit an den mathematisch-philosophischen Seminaren der Professoren Herbert Gross und Jean-Pierre Schobinger zu Wittgenstein, Frege und Finsler an der Universität Zürich seine interdisziplinäre Ausrichtung nachhaltig beeinflusst.
Zur Abstützung in Spezialfragen wurden zwei Mitarbeiter und eine Mitarbeiterin beigezogen, welche ebenfalls geisteswissenschaftlich und informationstechnologisch resp. naturwissenschaftlich ausgebildet sind und gearbeitet haben. Philipp Ackermann ist sowohl Autor von Standardwerken über Musikinformatik [2], Hypermedia-Design und objektorientierter Programmierung [3], als auch ausgebildet in Oekonomie und Sozialethik. Thomas Noll hat als diplomierter Mathematiker in Semiotik der Harmonielehre doktoriert [143] und in der Theorie der Gebärdenerkennung mit Sensorhandschuhen geforscht. Christine Flender ist Musikwissenschaftlerin und Slawistin, hat sich aber als Web-Designerin für den Deutschen Musikrat [36] und Teilnehmerin an Internet-Seminaren zur Musikwissenschaft einen Namen gemacht.
Trotz dieser interdisziplinären Verankerungen kann die gesamte Breite an Kenntnissen, Methoden und Systemen aus den sogenannten Geisteswissenschaften im Rahmen einer solchen prospektiven Studie nicht erfasst werden. Dies ist aber auch nicht der Anspruch dieses Berichts: Es geht zuallererst und vordringlich um die Skizzierung eines Zukunftsprofils der geisteswissenschaftlichen Realitäten in einem Wissensraum, der sich gegenwärtig aus dem fortgeschrittenen Einsatz der Informationstechnologie im weltweiten elektronischen Kommunikationsnetz abzuzeichnen beginnt. Dass dabei subjektive Visionen und Urteile auftreten müssen, ist nicht zu vermeiden. Der vorliegende Entwurf ist als erster Vorstoss in ein Feld der Wissensproduktion zu verstehen, von dem sich wertvolle Lehren ziehen lassen können, wenn man den guten Willen einbringt, die spezifischen Erkenntnisse mit der gebotenen Umsicht im je eigenen Umfeld zu interpretieren.
Die vorliegende Studie ist zwar massgeblich von Vertretern der sogenannten exakten Wissenschaften verfasst. Dies aber mit einem grossen Respekt vor dem je Anderen und mit dem Wissen, dass Geisteswissenschaft nicht selten mit einem Bereich menschlicher Wirklichkeit befasst ist, wo formale Methoden durchaus fragwürdig sind. Ein solches caveat ist unabdingbar für die Lektüre und den positiven Effekt der vorliegenden Studie.
Diese Bescheidung darf allerdings nicht implizieren, dass die Forderungen und Perspektiven, die wir im folgenden darlegen, nicht zum Nennwert genommen werden müssen. Es stehen immerhin Grundwerte der Wissenschaftsgesellschaft zur Diskussion, mit denen andere Regionen unserer Zivilisation weniger umsichtig umzugehen pflegen. Das Bewusstsein um eine starke Tradition muss auch eine umfassende Kompetenz beinhalten, damit eine unschätzbare Überlieferung nicht in der medialen Sprachlosigkeit verschwindet.
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