Wo stehen wir heute in der "Kartographierung" der Musik im Netz der Wissensgesellschaft?
Wir haben gesehen, dass die Musik-Objekte selber: Noten, Töne, Partiturzeichen etc. in den Repräsentationssprachen recht gut schon darstellbar sind und auch für die Analyse und Performance Werkzeuge der Informationstechnologie zur Verfügung stehen und intensive weiterentwickelt werden.
Man kann sagen, dass von allen klassischen Künsten -- und wohl auch von den neuen multimedialen Derivaten -- die Musik und ihre Wissenschaft am meisten der Wissensgesellschaft des Informationszeitalters einverleibt worden ist. Dies liegt sicher an der Abstraktheit musikalischer Konstruktion, aber auch daran, dass die Klangsynthese durch digitale Medien bis hin zur Simulation realer traditioneller Instrumente die Wirklichkeit musikalischer Werke massiv zu virtualisieren vermocht hat.
Damit soll natürlich nicht suggeriert werden, Musik lasse sich auf ein virtuelles Level reduzieren. Die menschliche Tätigkeit des Musizierens, des Interagierens mit Instrumenten und MitmusikerInnen, die Auseinandersetzung mit der mentalen Partitur, und dann die Mitteilung an das Auditorium, die in ihrer deiktischen Einmaligkeit als Dialog nie lexikalisch objektivierbar ist, all dies gehört substanziell zur Musik. Musikwissenschaft kann daran nicht vorbeischauen, das ist so sicher wie eben Wissenschaft die Realität und nicht einen bevorzugten Ausschnitt davon zu untersuchen hat.
Und es ist ebenso sicher, dass die Musiksemiotik hier ein hochsensibles Scharnier zwischen Form und Inhalt verfügbar macht, um das adäquate Musikwissenschaft nicht herumkommt. Es wäre jedoch ein falscher Ansatz der Forschungsmethodologie und -strategie, das Scharnier der Semiotik zu forcieren, ohne die Potenz der Darstellungs-, Analyse-, Kompositions- und Performancewerkzeuge einzusetzen überall dort, wo Präzision, massive Vernetzung und Informationsverarbeitung der Sache angemessen sind und die Kreativität auf allen Ebenen der Beschäftigung mit Musik katalysieren.
Mehr noch als jede andere Geisteswissenschaft ist Musik ja auch immer eine Experimentalwissenschaft gewesen: "Learning by Doing", "Denken und Spielen", das sind nicht Schlagworte und süffige Buchtitel, sondern Inhalte: Der Geist ist ein Experimentierfeld. Wie sagt doch Peter Sloterdijk dazu (Sloterdijk: Selbstversuch. Hanser, München und Wien 1996):
Es gilt nicht, analytische und kreative Dogmen gegeneinander in lächerlichen Dominanz-Ritualen auszuspielen, vielmehr ginge es darum, die Fragen und Antworten von Komposition, Performance und Theorie in einen gegenseitigen Dialog, in ein Frage-und-Antwort-Spiel auzulösen mit symmetrischen Rollen. Und dies als Selbstexperiment des Geistes -- nötig hätte er es ja zweifelsohne.
In dieser Perspektive erscheint eine Enzyklopädie im Zeitalter der Informationstechnologie nicht mehr so wie in der traditionellen Sicht. Die klassichen Charakteristika, einen
von denen Text nur noch eine Variante ist, siehe Bild 148.
Der EncycloSpace ist der topologische Corpus globalen menschlichen Wissens, welcher sich dynamisch in einer virtuellen Raum-Zeit entwickelt, interaktiv und ontologisch gekoppelt ist an die menschliche Wissensproduktion, und welcher eine uneingeschränkte Navigation erlaubt entsprechend universeller Orientierung in einem hypermedial dargestellten Begriffsraum. |
Diese Extensionen des Enzyklopädiebegriffs haben auch für die Geschichtsschreibung und Quellenerfassung dramatische Konsequenzen. Denn war es in der statischen Welt das implizite Ziel der Produktion von Werken der Kunst und Wissenschaft, gültige Veröffentlichungen zu schaffen, so ist dies inzwischen nicht mehr nötig oder gar unerwünscht. Ein Übergangszustand vom endgültigen Werkzustand zum nie fertigen, dynamischen Werk sind die Versionsnummern von Software: Vor wenigen Jahren noch gab es alle paar Jahre beredt angekündigte Neuversionen 1, 1.02, 2, etc., so ist es heute üblich geworden, Versionen durch das Erstellungsdatum zu definieren. So irrelevant ist das Update inzwischen: Nur noch Up-Date.
Die Frage stellt sich ernsthaft in einem vernetzten Produktionsfeld von Wissen, das in einem Tempo wächst, dass der Zustand selber gegenüber der Veränderung immer sekundärer wird.
Wir arbeiten deshalb (im Kontext der VW-Nachwuchsgruppe an der TU Berlin) daran, die Einbindung einer momentanen Version des Wissens als -- obligaten -- Denotator an jede Arbeit zu knüpfen, einem Denotator, dessen Form die globale raum-zeitliche Beziehung der Arbeit zu anderen Quellen automatisch bei jeder Veränderung der Arbeit dokumentiert. So kann die Version, die Quellenlage zu anderen Versionen etc. systematisch erfasst werden. Die Identität eines Werks oder einer Arbeit wird so zum Punkt im Strom seiner Entwicklung. Dies ist insbesondere auch bei Internet-Kompositionen wie etwa den Arbeiten von Karlheinz Essel oder von Andrea Sodomka essentiell: Die Identität entsteht interaktiv und bleibt dynamisch.
Nach der ursprüngliche Definition sind Collaboratories Systeme vernetzter Zusammenarbeit, wie sie jetzt an verschiedenen Orten entstehen und in ihrer Ausprägung aktuell entwickelt werden. Der Begriff "Collaboratory" wurde 1989 vom Informatiker Bill Wulf der Virginia University geprägt:
A Collaboratory is a 'center without walls' in which the nation's researchers can perform their research |
Die Experimente, der Datenaustausch, die Dialoge, die Protokollierung geschieht über Informationsnetzwerke und ist ständig allen Beteiligten zugänglich.
Wir haben auch in der Musikwissenschaft mit diesem Werkzeug gemeinsamer Arbeit am EncycloSpace begonnen, siehe etwa der Thesaurus Musicarum Latinarum (TML), Bild 150 bis Bild 152.
Auch in der Zusammenarbeit mit der Universität Osnabrück über Performance-Aspekte von Bachs Kunst der Fuge wird das Arsenal der Hypermedien und ihrer Vernetzung massiv ausgenutzt (siehe Humanities@EncycloSpace, Fallstudie 3 anfangs des Berichts):
Inzwischen sind die metrischen und melodischen Analyse der Kunst der Fuge durch Stange-Elbe auch auf CD-ROM gebrannt und als riesige Mengen von Denotatoren im Prinzip als Erweiterung des EncycloSpace Realität.
Eine weitere Fallstudie zeigt, dass die Globlisierung des Wissens auch die Forschung radikal verändert (siehe Humanities@EncycloSpace, Fallstudie 4):
An der Klangart-Konferenz von 1999 an der Universität Osnabrück unter dem Titel Global Village - Global Brain - Global Music wurde das Problem der Globalisierung in Referaten und einem Podiumsgespräch thematisiert. Es wurden dabei folgende kritische Perspektiven erkannt:
Diese Konferenz zeigt dramatisch, an welcher Wegegabelung man hier steht. In einer Richtung wird die radikale Skepsis gegen Medien sichtbar. So etwa in dem Zitat von Enrico Fubini: "Die ganze Medienkultur ist ein Verrat." Der Medientheoretiker Norbert Schläbitz erklärt diese Aussage in seinem Referat so:
Andererseits beschreibt der Computerkomponist Georg Hajdu die Zukunft der vernetzten Echtzeitkomposition am Beispiel von Tod Machovers Brain Opera, die am MIT Media Lab in Boston durch 50 Mitarbeiter entwickelt und 1996 in NYC erstmals aufgeführt wurde. Z.B. hier die Palette.
Hajdu charakterisiert Internetmusik anhand der Brain Opera durch folgende 6 Kriterien:
Karlheinz Essl bringt den Punkt 5 noch besser zum Audruck, indem er in seinem Referat fordert, dass das Werk nicht mehr ein interpretierbarer Code sei (Partitur), sondern ein Meta-Modell, welches als Software ein Potenzial von Musikstücken ermöglicht und auch nicht mehr vom Komponist konkret angewendet, sondern an potenzielle Nutzer delegiert wird, die auf ihren PCs das Meta-Modell verwenden und die Musik autonom herstellen. Der Komponist wird hier also zum Meta-Komponist, d.h., zum Musikweltenschöpfer! Durchaus eine neue Sorte von Schöpfer-Phantasien...
Die Allgegenwarts-Phantasien, eine Variante der Schöpfer-Phantasien, haben allerdings schon längere Zeit vor dem Internet in den Köpfen der Musiker gespukt, so etwa in den Kompositionen des Jazz-Saxophonisten und -Komponisten Antony Braxton. Er hat 1977-78 die Komposition Nr. 82 "For Four Orchestras" realisiert mit 160 = 4 x 40 Musikern in vier Konzertsälen und auf LP festgehalten. Seine Kompositionen beschreibt er mit einer Geheimschrift (siehe Bild 153). Zu seinen Projekten gehören auch Komposition zwischen verschiedenen Planeten und sogar Galaxien...
Nach diesen einführenden Betrachtungen wollen wir die Musiktopographie der global verteilten Musik beschreiben. Diese erfährt dabei eine dreifache Entfaltung.
Erstens eine durch die Raumzeitkoordinaten, welche die Globalisierung beschreiben. In der Tat findet nun Musikproduktion und -rezeption an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten statt. Diese ist natürlich schon immer so gewesen, aber hier bezieht sich die Veränderung auf ein bestimmtes Werk und die Raumzeit-Punkte wirken aufeinander ein (Interaktion). Dasselbe Werk wird in seiner Poiesis und Aesthesis verteilt definiert.
Dazu kommt zweitens, dass die soziale Interaktion auch die Beziehung Poietik-Aesthesis intensiviert insofern, als die Wahrnehmung durch die Interaktivität unmittelbar in die Schöpfung übergehen kann: Die früher vor allem in der Improvisation, etwa im Jazz, existierende
wird nun durch das neue Medium zum allgemeinen Paradigma.
Drittens ist das Werk selber nicht mehr jene zeit- und ortsunabhänige Instanz, sondern verschwimmt in der Zeit durch seine Versionierungen, aber auch durch die interaktive ständige Fortspinnung, und im Raum durch seine verteilte Präsenz einerseits bei den Zuhörer(inn)en, aber auch bei den (wie gesagt z.T. identifizierten) Komponist(inn)en.
Bild 154 veranschaulicht diese drei Faktoren.
Wir wollen diese veränderte Sachlage an drei Beispielen diskutieren: A. Apples iPod, B. Tanakas Malleable Mobile Music und C. Wolframs (und unsere) Klingeltöne. Als Referenz für diese neue Welt verweise ich auf das Buch "Consuming Music Together" .
In seinem Beitrag in a.a.O. zum iPod sagt Michael Bull "The iPod changes emotional control of one's life." Er berichtet anhand einer Umfrage unter 1004 Personen mit 35 Fragen in UK, USA, CH, DK.
Man geht hier davon aus, dass Musik die emotionale Befindlichkeit des Menschen massiv beeinflusst. Dies ist sowohl psychologisch als auch neurophysiologisch nachgewiesen worden. Wir verweisen hier insbesondere auf unsere eigenen Arbeiten zur Wirkung von konsonanten und dissonanten Harmonien auf das limbische System des Menschen, also auf das Gefühlshirn.
Die Möglichkeiten des iPod sind gegenüber früheren mobilen Musiktechnologien wie dem Walkman massiv erweitert:
Das heisst, dass z.B. im Auto Einsamkeit oder bei der Arbeit zur Unterstützung der Arbeitsstimmung gezielt Musik eingesetzt werden kann. Dieser Musikraum ist auch mit der Kathedrale und mit dem Citroen DS als Kultraum verglichen worden.
Es gibt in NY, Boston, Melbourne etc. iPod-Klubs, wo diese Vorräte gemeinsam zelebriert werden.
In den Theorien zur Urbanität gibt es verschiedene Ansätze der Erklärung diese Phänommens:
Die psychologischen Faktoren des iPod-Phänomens sind wie folgt erkannt worden:
Dieses Projekt des Japaners Atau Tanaka von vom Sony CSL in Paris ist ziemlich radikal, aber noch nicht ausgetestet. Interessant ist der Ansatz.
Die Idee von Tanaka ist, dass jedes Instrument eine idiomatische Schreibweise seiner Musik erfordert. Das bedeutet, dass man für Klavier ganz anders schreibt als für Geige oder Orgel. Tanaka versteht das Internet als riesiges neues Instrument und verlangt, dass man dafür ein eigenes Idiom ersinnt. Nach seiner Meinung hat auch das Internet eine Stimme, und die gilt es, hörbar zu machen. Für ihn sind die Verzögerungen (latencies) in der Übertragung im Internet einfach eine virtuelle Variante der klassischen Raumakustik!
So hat er etwa den Global String gebaut, eine halb physikalische, halb virtuelle Riesensaite, die an beiden Enden in verschiedenen Städten 15 Meter lang und 16 mm dick ist und durch Sensoren zwischen den Enden kommuniziert und so bespielt werden kann. Er sagt dazu "the body of the string is the internet".
Tanaka ist der Meinung, dass der iPod und die Geräte, welche bestehende Musik verteilen, eigentlich immer nur Vergangenes transportieren. Sein Programm ist es "to establich musical identity of an individual with a community."
Jeder Benutzer bekommt einen PDA (Personal Digital Assistant) wie oben abgebildet, welcher neben den Eingabefeldern für Musiksteuerung auch einen Bewegungssensor für Beschleunigungen der Körperbewegungen enthält. Damit will Tanaka auch unbewusste Faktoren der gesellschaftlichen Bewegung (in der Stadt herumlaufen, sich setzen, etc.) in die Musikproduktion einfliessen lassen.
Das System wird von mehreren Personen bedient, welche einen Server ansteuern, wo Musik gemeinsam hergestellt und modifiziert wird, um nachher als Produkt überall hörbar zurückgegeben zu werden. Man geht dabei zuerst von einem gemeinsam gewählten Musikstück in MP3-Format aus. Dieses wird dann durch verschiedene Manipulationen kollabborativ neu gestaltet. Bild 157 zeigt das Netzwerk-Schema.
Die Musik wird durch verschiedene FFT-Analysen segmentiert und auf Tempo untersucht. Danach ergeben sich ganz elementare Gruppierungs- und Taktinformationen, die dann noch mit in den verfügbaren Publikationen nicht genauer erklärten Operationen auf dem Material zu "neu-getrübtem Musikbirchermüesli" vermanscht werden. Ein Test steht allerdings noch aus...
Das letzte Kapitel der global-verteilten Musiktechnologie ist einer trivialen, aber soziologisch immer wichtiger werdenden Verzweigung, den Klingeltönen für das Handy, gewidmet.
Klingeltöne sind so etwas wie klingende Signaturen von Benutzern und können zur Identifikation im Handy-Verkehr benutzt werden. Das Problem dabei ist die Anpassung der Klingeltöne an das Individuum. Dazu stellt sich zunächst die Frage nach dem Vorrat an Musik. Der Status quo ist, dass man aus bestehender Musik über das Internet eine grosse Zahl von solchen Signaturen herunterladen kannn, aber sie werden nie individuell sein. Der Schöpfer des bekannten Mathematica-Programms, Stephen Wolfram, hat nach der Fertigstellung seines dicken Buches "A New Kind of Science" 2002 auch angefangen, seine Prinzipien auf Musikproduktion anzuwenden. Man kann mit diesen Methoden inzwischen seine eigenen Klingeltöne herstellen über die Site WolframTones.
Welches sind dies Prinzipien? Wolfram benutzt zelluläre Automaten, welche eine Reihe von Zuständen von Zellen in einer rechteckigen e x h Zell-Anordnung im Raum EH erzeugen. Ein solcher Automat wird durch eine Regel erzeugt, welche jeden neuen Zustand einer Zelle aus den Zuständen von Umgebungszellen errechnet. Die zeitliche Entwicklung entspricht der Evolution des Automaten, dessen Zustände vertikal auf einer Spalte dargestellt sind. Man kann das Resultat durch einige Constraints variieren, so etwa die Instrumentierung, die die Farben (=Zustände der Zellen) bedeuten, oder die Skalen, oder das Tempo. Bild 158 zeigt eine Konfiguration.
Guerino Mazzola und Alev Armangil haben für Nokia ein Projekt für Klingeltöne vorgeschlagen, worin die Alterations-Funktionen von presto und die Semantik von SMS-Texten benutzt werden, um von gegebenen Melodien alterierte Versionen zu produzieren. Die Alterationen können insbesondere die Skalen- oder Rhythmus-Alterationen sein, welche ethnisch-gefärbte Versionen von Musikstücken produzieren. So etwa die chinesische Version einer Schumannschen Kinderszene. Wir führen hier die PPT-Präsentation bei Nokia vor.
![]() |
WEITER![]() |