13. Möglichkeiten und Grenzen einer "Musikenzyklopädie des Informationszeitalters" im Licht von Knowledge Science und Collaboratories (z.B. Musik-Sites im Internet)

Wo stehen wir heute in der "Kartographierung" der Musik im Netz der Wissensgesellschaft?

Wir haben gesehen, dass die Musik-Objekte selber: Noten, Töne, Partiturzeichen etc. in den Repräsentationssprachen recht gut schon darstellbar sind und auch für die Analyse und Performance Werkzeuge der Informationstechnologie zur Verfügung stehen und intensive weiterentwickelt werden.

Man kann sagen, dass von allen klassischen Künsten -- und wohl auch von den neuen multimedialen Derivaten -- die Musik und ihre Wissenschaft am meisten der Wissensgesellschaft des Informationszeitalters einverleibt worden ist. Dies liegt sicher an der Abstraktheit musikalischer Konstruktion, aber auch daran, dass die Klangsynthese durch digitale Medien bis hin zur Simulation realer traditioneller Instrumente die Wirklichkeit musikalischer Werke massiv zu virtualisieren vermocht hat.

Damit soll natürlich nicht suggeriert werden, Musik lasse sich auf ein virtuelles Level reduzieren. Die menschliche Tätigkeit des Musizierens, des Interagierens mit Instrumenten und MitmusikerInnen, die Auseinandersetzung mit der mentalen Partitur, und dann die Mitteilung an das Auditorium, die in ihrer deiktischen Einmaligkeit als Dialog nie lexikalisch objektivierbar ist, all dies gehört substanziell zur Musik. Musikwissenschaft kann daran nicht vorbeischauen, das ist so sicher wie eben Wissenschaft die Realität und nicht einen bevorzugten Ausschnitt davon zu untersuchen hat.

Und es ist ebenso sicher, dass die Musiksemiotik hier ein hochsensibles Scharnier zwischen Form und Inhalt verfügbar macht, um das adäquate Musikwissenschaft nicht herumkommt. Es wäre jedoch ein falscher Ansatz der Forschungsmethodologie und -strategie, das Scharnier der Semiotik zu forcieren, ohne die Potenz der Darstellungs-, Analyse-, Kompositions- und Performancewerkzeuge einzusetzen überall dort, wo Präzision, massive Vernetzung und Informationsverarbeitung der Sache angemessen sind und die Kreativität auf allen Ebenen der Beschäftigung mit Musik katalysieren.

Mehr noch als jede andere Geisteswissenschaft ist Musik ja auch immer eine Experimentalwissenschaft gewesen: "Learning by Doing", "Denken und Spielen", das sind nicht Schlagworte und süffige Buchtitel, sondern Inhalte: Der Geist ist ein Experimentierfeld. Wie sagt doch Peter Sloterdijk dazu (Sloterdijk: Selbstversuch. Hanser, München und Wien 1996):

Wir sagen nicht mehr, die Welt ist alles, was von Gott so eingerichtet ist, wie es ist -- nehmen wir es hin; wir sagen auch nicht, die Welt ist ein Kosmos, ein Ordnungsjuwel -- fügen wir uns an der richtigen Stelle ein. Stattdessen meinen wir, die Welt ist alles, was der Fall ist. Nein, auch das ist noch zu scholastisch ausgedrückt, denn in Wahrheit leben wir, als wollten wir uns zu dem Satz bekennen: Die Welt ist alles, womit wir bis zum Zerbrechen experimentieren.

Es gilt nicht, analytische und kreative Dogmen gegeneinander in lächerlichen Dominanz-Ritualen auszuspielen, vielmehr ginge es darum, die Fragen und Antworten von Komposition, Performance und Theorie in einen gegenseitigen Dialog, in ein Frage-und-Antwort-Spiel auzulösen mit symmetrischen Rollen. Und dies als Selbstexperiment des Geistes -- nötig hätte er es ja zweifelsohne.

EncycloSpace

In dieser Perspektive erscheint eine Enzyklopädie im Zeitalter der Informationstechnologie nicht mehr so wie in der traditionellen Sicht. Die klassichen Charakteristika, einen

sind überholt worden durch

von denen Text nur noch eine Variante ist, siehe Bild 148.


Wissensraum

Bild 148: Der enzyklopädische Wissensraum der Informationstechnolgie


Wir nennen diesen Wissensraum in der Studie von 1998 für den Schweizerischen Wissenschftsrat

Humanities@EncycloSpace

"EncycloSpace" bedeutet dies:

Der EncycloSpace ist der topologische Corpus globalen menschlichen Wissens, welcher sich dynamisch in einer virtuellen Raum-Zeit entwickelt, interaktiv und ontologisch gekoppelt ist an die menschliche Wissensproduktion, und welcher eine uneingeschränkte Navigation erlaubt entsprechend universeller Orientierung in einem hypermedial dargestellten Begriffsraum.

Diese Extensionen des Enzyklopädiebegriffs haben auch für die Geschichtsschreibung und Quellenerfassung dramatische Konsequenzen. Denn war es in der statischen Welt das implizite Ziel der Produktion von Werken der Kunst und Wissenschaft, gültige Veröffentlichungen zu schaffen, so ist dies inzwischen nicht mehr nötig oder gar unerwünscht. Ein Übergangszustand vom endgültigen Werkzustand zum nie fertigen, dynamischen Werk sind die Versionsnummern von Software: Vor wenigen Jahren noch gab es alle paar Jahre beredt angekündigte Neuversionen 1, 1.02, 2, etc., so ist es heute üblich geworden, Versionen durch das Erstellungsdatum zu definieren. So irrelevant ist das Update inzwischen: Nur noch Up-Date.

Die Frage stellt sich ernsthaft in einem vernetzten Produktionsfeld von Wissen, das in einem Tempo wächst, dass der Zustand selber gegenüber der Veränderung immer sekundärer wird.

Wir arbeiten deshalb (im Kontext der VW-Nachwuchsgruppe an der TU Berlin) daran, die Einbindung einer momentanen Version des Wissens als -- obligaten -- Denotator an jede Arbeit zu knüpfen, einem Denotator, dessen Form die globale raum-zeitliche Beziehung der Arbeit zu anderen Quellen automatisch bei jeder Veränderung der Arbeit dokumentiert. So kann die Version, die Quellenlage zu anderen Versionen etc. systematisch erfasst werden. Die Identität eines Werks oder einer Arbeit wird so zum Punkt im Strom seiner Entwicklung. Dies ist insbesondere auch bei Internet-Kompositionen wie etwa den Arbeiten von Karlheinz Essel oder von Andrea Sodomka essentiell: Die Identität entsteht interaktiv und bleibt dynamisch.


Collaboratories

Nach der ursprüngliche Definition sind Collaboratories Systeme vernetzter Zusammenarbeit, wie sie jetzt an verschiedenen Orten entstehen und in ihrer Ausprägung aktuell entwickelt werden. Der Begriff "Collaboratory" wurde 1989 vom Informatiker Bill Wulf der Virginia University geprägt:

A Collaboratory is a 'center without walls' in which the nation's researchers can perform their research
  • without regard to geographical location,
  • interacting with colleagues,
  • accessing instrumentation,
  • sharing data and computational resources,
  • and accessing information in digital libraries.


Collaboratory

Bild 149: Collaboratory aus der Molekularbiologie im Experimentierstadium


Bild 149 zeigt einige Ausschnitte von Arbeitsumgebungen von Collaboratories, hier im Bereich Molekularbiologie. Siehe DOE2000-Homepage für andere Projekte.

Die Experimente, der Datenaustausch, die Dialoge, die Protokollierung geschieht über Informationsnetzwerke und ist ständig allen Beteiligten zugänglich.

Wir haben auch in der Musikwissenschaft mit diesem Werkzeug gemeinsamer Arbeit am EncycloSpace begonnen, siehe etwa der Thesaurus Musicarum Latinarum (TML), Bild 150 bis Bild 152.


TML

Bild 150: TML, Homepage


Mensuralnotation

Bild 151: Ein Textausschnitt mit Bild von Mensuralnotation

Kodifizierung

Bild 151: Ein Textausschnitt mit Bild von Mensuralnotation


In der Zusammenarbeit mit der TU Berlin und dem IRCAM in Paris haben wir schon einige der in Bild 149 ersichtlichen Werkzeuge in Betrieb. So werden ständig Arbeitsprotokolle auf dem Internet verfügbar gemacht, und über e-mail, ftp-Transfer und andere Datenbahnen werden Software, Daten (Zahlentabellen aus Experimenten, Klangbeispiele, Partitur- und andere Denotatoren, Bilder und Graphiken etc.) und Texte ausgetauscht.

Auch in der Zusammenarbeit mit der Universität Osnabrück über Performance-Aspekte von Bachs Kunst der Fuge wird das Arsenal der Hypermedien und ihrer Vernetzung massiv ausgenutzt (siehe Humanities@EncycloSpace, Fallstudie 3 anfangs des Berichts):

Im Rahmen eines DFG-Projekts an der Universität Osnabrück zur Analyse und Interpretation von Bachs "Kunst der Fuge" stellte sich 1996 die Frage eines Zusammenhangs zwischen harmonischen Strukturen und der Gestaltung von Aufführungs-Interpretationen der Komposition. Der Forscher kontaktierte per e-mail das Multimedia Lab am Institut für Informatik der Universität Zürich, wo im Rahmen eines NF-Projekts die Analyse- und Interpretationssoftware RUBATO entwickelt wurde. Um die Werkzeuge für harmonische Analyse zu implementieren, wurde von der Technischen Universität Berlin ein Programmentwurf eingeholt. Dieser wurde auf der Mathematik-Software Mathematica geschrieben und als Attachment per e-mail nach Zürich übermittelt. Dort wurden die entsprechenden Algorithmen in die RUBATO Software eingebaut, getestet und nach Osnabrück weitergegeben. Letzteres geschah über den ftp-Server des Instituts für Informatik, da grosse Programmpakete via e-mail nicht übermittelt werden können. In Osnabrück wurde das Programmpaket nun im Rahmen des DFG-Projekts angewendet. Die Resultate mussten nun auch statistisch genauer untersucht werden. Dazu wurden sie als Datenpakete an einen Spezialisten des Statistikdepartments der Universität Konstanz gemailt, der die statistische Analyse nun nach Osnabrück und Zürich zurücksenden konnte. Damit war ein Projektschritt realisiert worden, der vier verschiedene Kompetenzbereiche umfasste und nur elektronisch zu bewältigen war.

Inzwischen sind die metrischen und melodischen Analyse der Kunst der Fuge durch Stange-Elbe auch auf CD-ROM gebrannt und als riesige Mengen von Denotatoren im Prinzip als Erweiterung des EncycloSpace Realität.

Eine weitere Fallstudie zeigt, dass die Globlisierung des Wissens auch die Forschung radikal verändert (siehe Humanities@EncycloSpace, Fallstudie 4):

An einer Musikologenkonferenz in Berlin wurde im Sommer 1996 eine statistische Studie über die Gestalt von Tempokurven bei der Interpretation von Schumanns "Träumerei" vorgestellt. Die Resultate basierten auf lediglich zwei Tempo-Messungen zu einer privaten Interpretation und zu einer auf CD festgehaltenen des Pianisten Jörg Demus. Die Resultate konnten aber nicht in Anspruch nehmen, statistisch signifikant zu sein, da der Forscher es unterlassen hatte, die heute weltweit elektronisch verfügbaren Tempo-Messungen von 28 prominenten Interpretationen der "Träumerei" zu benutzen. Diese 1992 von Bruno Repp durchgeführten Messungen, die u.a. Interpretationen von Argerich, Brendel, Demus, Horowitz, etc. erfassen, sind via e-mail jederzeit elektronisch (als ASCII-Daten) abrufbar und können so auch für weitere Untersuchungen von allen Forschern benutzt werden.


Verteilte Musik

An der Klangart-Konferenz von 1999 an der Universität Osnabrück unter dem Titel Global Village - Global Brain - Global Music wurde das Problem der Globalisierung in Referaten und einem Podiumsgespräch thematisiert. Es wurden dabei folgende kritische Perspektiven erkannt:

Diese Konferenz zeigt dramatisch, an welcher Wegegabelung man hier steht. In einer Richtung wird die radikale Skepsis gegen Medien sichtbar. So etwa in dem Zitat von Enrico Fubini: "Die ganze Medienkultur ist ein Verrat." Der Medientheoretiker Norbert Schläbitz erklärt diese Aussage in seinem Referat so:

Der Computer par excellance ist das verräterische Medium schlechthin, indem er die Kunst aus den Zirkeln einer ehemaligen Geheimwissenschaft herausführte in die offene, soziale Gemeinschaft. Er macht alle Kunst, indem er den Zugriff erlaubt, öffentlich und – wenn man so will – gemein. Neue Medien befördern die Breitenwirkung und, indem sie solches leisten und verstehend teilnehmen lassen, verallgemeinern sie. Sie lassen an Wissenswelten teilhaben, die bislang ein Geheimnis umgab, das nur wenige zu lesen verstanden. Jede Veröffentlichung ist daher, wie Flusser schreibt, ein Geheimnisverrat. „Wenn man ein Geheimnis divulgiert [= Geheimnis verraten, N.S.], weiht man nicht ein, sondern entweiht."

Andererseits beschreibt der Computerkomponist Georg Hajdu die Zukunft der vernetzten Echtzeitkomposition am Beispiel von Tod Machovers Brain Opera, die am MIT Media Lab in Boston durch 50 Mitarbeiter entwickelt und 1996 in NYC erstmals aufgeführt wurde. Z.B. hier die Palette.

Bild 152: Tod Machovers Brain Opera

Hajdu charakterisiert Internetmusik anhand der Brain Opera durch folgende 6 Kriterien:

  1. Vernetzung
  2. Algorithmen
  3. Interaktivität
  4. Echtzeit
  5. Improvisation und Komposition verschmelzen
  6. starke soziale Komponente (Miles Davis: Jazz replaced by Social Music)

Karlheinz Essl bringt den Punkt 5 noch besser zum Audruck, indem er in seinem Referat fordert, dass das Werk nicht mehr ein interpretierbarer Code sei (Partitur), sondern ein Meta-Modell, welches als Software ein Potenzial von Musikstücken ermöglicht und auch nicht mehr vom Komponist konkret angewendet, sondern an potenzielle Nutzer delegiert wird, die auf ihren PCs das Meta-Modell verwenden und die Musik autonom herstellen. Der Komponist wird hier also zum Meta-Komponist, d.h., zum Musikweltenschöpfer! Durchaus eine neue Sorte von Schöpfer-Phantasien...

Die Allgegenwarts-Phantasien, eine Variante der Schöpfer-Phantasien, haben allerdings schon längere Zeit vor dem Internet in den Köpfen der Musiker gespukt, so etwa in den Kompositionen des Jazz-Saxophonisten und -Komponisten Antony Braxton. Er hat 1977-78 die Komposition Nr. 82 "For Four Orchestras" realisiert mit 160 = 4 x 40 Musikern in vier Konzertsälen und auf LP festgehalten. Seine Kompositionen beschreibt er mit einer Geheimschrift (siehe Bild 153). Zu seinen Projekten gehören auch Komposition zwischen verschiedenen Planeten und sogar Galaxien...

Bild 153: Antony Braxtons "For Four Orchestras"

Musiktopographie global verteilter Musik

Nach diesen einführenden Betrachtungen wollen wir die Musiktopographie der global verteilten Musik beschreiben. Diese erfährt dabei eine dreifache Entfaltung.

Erstens eine durch die Raumzeitkoordinaten, welche die Globalisierung beschreiben. In der Tat findet nun Musikproduktion und -rezeption an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten statt. Diese ist natürlich schon immer so gewesen, aber hier bezieht sich die Veränderung auf ein bestimmtes Werk und die Raumzeit-Punkte wirken aufeinander ein (Interaktion). Dasselbe Werk wird in seiner Poiesis und Aesthesis verteilt definiert.

Verschiedene Agenten, ob Menschen oder Maschinen, produzieren interaktiv ein Werk
an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten.

Dazu kommt zweitens, dass die soziale Interaktion auch die Beziehung Poietik-Aesthesis intensiviert insofern, als die Wahrnehmung durch die Interaktivität unmittelbar in die Schöpfung übergehen kann: Die früher vor allem in der Improvisation, etwa im Jazz, existierende

Einheit von Komponist, Interpret und Hörer

wird nun durch das neue Medium zum allgemeinen Paradigma.

Drittens ist das Werk selber nicht mehr jene zeit- und ortsunabhänige Instanz, sondern verschwimmt in der Zeit durch seine Versionierungen, aber auch durch die interaktive ständige Fortspinnung, und im Raum durch seine verteilte Präsenz einerseits bei den Zuhörer(inn)en, aber auch bei den (wie gesagt z.T. identifizierten) Komponist(inn)en.

Das Werk wird in seiner Existenz in Raum und Zeit verteilt und erst so auch definiert.

Bild 154 veranschaulicht diese drei Faktoren.

Bild 154: Zur Topographie global-verteilter Musik.

Wir wollen diese veränderte Sachlage an drei Beispielen diskutieren: A. Apples iPod, B. Tanakas Malleable Mobile Music und C. Wolframs (und unsere) Klingeltöne. Als Referenz für diese neue Welt verweise ich auf das Buch "Consuming Music Together" .


A. Apples iPod

Bild 155: Der iPod (hier: Version nano, schwarz) von Apple.

In seinem Beitrag in a.a.O. zum iPod sagt Michael Bull "The iPod changes emotional control of one's life." Er berichtet anhand einer Umfrage unter 1004 Personen mit 35 Fragen in UK, USA, CH, DK.

Man geht hier davon aus, dass Musik die emotionale Befindlichkeit des Menschen massiv beeinflusst. Dies ist sowohl psychologisch als auch neurophysiologisch nachgewiesen worden. Wir verweisen hier insbesondere auf unsere eigenen Arbeiten zur Wirkung von konsonanten und dissonanten Harmonien auf das limbische System des Menschen, also auf das Gefühlshirn.

Die Möglichkeiten des iPod sind gegenüber früheren mobilen Musiktechnologien wie dem Walkman massiv erweitert:

Das heisst, dass z.B. im Auto Einsamkeit oder bei der Arbeit zur Unterstützung der Arbeitsstimmung gezielt Musik eingesetzt werden kann. Dieser Musikraum ist auch mit der Kathedrale und mit dem Citroen DS als Kultraum verglichen worden.

Es gibt in NY, Boston, Melbourne etc. iPod-Klubs, wo diese Vorräte gemeinsam zelebriert werden.

In den Theorien zur Urbanität gibt es verschiedene Ansätze der Erklärung diese Phänommens:

  1. Die Stadt wird als negativer Raum interpretiert, worin man sich wie in einer "privaten auditorischen Blase" abkapseln kann.
  2. Die Stadt wird im Sinne von Walter Benjamin als Flanierraum verstanden, als ästhetisches Environment, welches durch die Musik klanglich ergänzt wird.

Die psychologischen Faktoren des iPod-Phänomens sind wie folgt erkannt worden:


B. Malleable Mobile Music

Dieses Projekt des Japaners Atau Tanaka von vom Sony CSL in Paris ist ziemlich radikal, aber noch nicht ausgetestet. Interessant ist der Ansatz.

Bild 156: Das mobile Steuergerät für Malleable Mobile Music.

Die Idee von Tanaka ist, dass jedes Instrument eine idiomatische Schreibweise seiner Musik erfordert. Das bedeutet, dass man für Klavier ganz anders schreibt als für Geige oder Orgel. Tanaka versteht das Internet als riesiges neues Instrument und verlangt, dass man dafür ein eigenes Idiom ersinnt. Nach seiner Meinung hat auch das Internet eine Stimme, und die gilt es, hörbar zu machen. Für ihn sind die Verzögerungen (latencies) in der Übertragung im Internet einfach eine virtuelle Variante der klassischen Raumakustik!

So hat er etwa den Global String gebaut, eine halb physikalische, halb virtuelle Riesensaite, die an beiden Enden in verschiedenen Städten 15 Meter lang und 16 mm dick ist und durch Sensoren zwischen den Enden kommuniziert und so bespielt werden kann. Er sagt dazu "the body of the string is the internet".

Tanaka ist der Meinung, dass der iPod und die Geräte, welche bestehende Musik verteilen, eigentlich immer nur Vergangenes transportieren. Sein Programm ist es "to establich musical identity of an individual with a community."

Jeder Benutzer bekommt einen PDA (Personal Digital Assistant) wie oben abgebildet, welcher neben den Eingabefeldern für Musiksteuerung auch einen Bewegungssensor für Beschleunigungen der Körperbewegungen enthält. Damit will Tanaka auch unbewusste Faktoren der gesellschaftlichen Bewegung (in der Stadt herumlaufen, sich setzen, etc.) in die Musikproduktion einfliessen lassen.

Das System wird von mehreren Personen bedient, welche einen Server ansteuern, wo Musik gemeinsam hergestellt und modifiziert wird, um nachher als Produkt überall hörbar zurückgegeben zu werden. Man geht dabei zuerst von einem gemeinsam gewählten Musikstück in MP3-Format aus. Dieses wird dann durch verschiedene Manipulationen kollabborativ neu gestaltet. Bild 157 zeigt das Netzwerk-Schema.

Bild 157: Das mobile Steuergerät für Malleable Mobile Music.

Die Musik wird durch verschiedene FFT-Analysen segmentiert und auf Tempo untersucht. Danach ergeben sich ganz elementare Gruppierungs- und Taktinformationen, die dann noch mit in den verfügbaren Publikationen nicht genauer erklärten Operationen auf dem Material zu "neu-getrübtem Musikbirchermüesli" vermanscht werden. Ein Test steht allerdings noch aus...


C. Klingeltöne nach Wolfram (und auch etwas Mazzola)

Das letzte Kapitel der global-verteilten Musiktechnologie ist einer trivialen, aber soziologisch immer wichtiger werdenden Verzweigung, den Klingeltönen für das Handy, gewidmet.

Klingeltöne sind so etwas wie klingende Signaturen von Benutzern und können zur Identifikation im Handy-Verkehr benutzt werden. Das Problem dabei ist die Anpassung der Klingeltöne an das Individuum. Dazu stellt sich zunächst die Frage nach dem Vorrat an Musik. Der Status quo ist, dass man aus bestehender Musik über das Internet eine grosse Zahl von solchen Signaturen herunterladen kannn, aber sie werden nie individuell sein. Der Schöpfer des bekannten Mathematica-Programms, Stephen Wolfram, hat nach der Fertigstellung seines dicken Buches "A New Kind of Science" 2002 auch angefangen, seine Prinzipien auf Musikproduktion anzuwenden. Man kann mit diesen Methoden inzwischen seine eigenen Klingeltöne herstellen über die Site WolframTones.

Welches sind dies Prinzipien? Wolfram benutzt zelluläre Automaten, welche eine Reihe von Zuständen von Zellen in einer rechteckigen e x h Zell-Anordnung im Raum EH erzeugen. Ein solcher Automat wird durch eine Regel erzeugt, welche jeden neuen Zustand einer Zelle aus den Zuständen von Umgebungszellen errechnet. Die zeitliche Entwicklung entspricht der Evolution des Automaten, dessen Zustände vertikal auf einer Spalte dargestellt sind. Man kann das Resultat durch einige Constraints variieren, so etwa die Instrumentierung, die die Farben (=Zustände der Zellen) bedeuten, oder die Skalen, oder das Tempo. Bild 158 zeigt eine Konfiguration.

Bild 158: Eine Konfiguration eines Klingeltons nach Wolfram.

Guerino Mazzola und Alev Armangil haben für Nokia ein Projekt für Klingeltöne vorgeschlagen, worin die Alterations-Funktionen von presto und die Semantik von SMS-Texten benutzt werden, um von gegebenen Melodien alterierte Versionen zu produzieren. Die Alterationen können insbesondere die Skalen- oder Rhythmus-Alterationen sein, welche ethnisch-gefärbte Versionen von Musikstücken produzieren. So etwa die chinesische Version einer Schumannschen Kinderszene. Wir führen hier die PPT-Präsentation bei Nokia vor.

Bild 159: Das Nokia-Projekt.

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