12. Orientierung und Navigation im Begriffssraum der Musik

Wir hatten schon in Lektion 7 den enzyklopädischen Rahmen der Theorie der Formen und Denotatoren vorgestellt. Darin war es neben dem Aurouxschen Kriterium der Einheit und Vollständigkeit auch um Diskursivität gegangen, einer Forderung nach Orientierung, die klassisch als alphabetische Ordnung vorliegt. Und im weiteren Sinne auch als Geographie der Wissenslandschaft, wie sie das Tableau figuré (Bild 60) skizziert.

Während die alphabetische Ordnung eine präzise ist, spielt die geographsiche Ordnung eine doppelte Rolle: einerseits ist sie Ordnung, andererseits ist sie auch ein Instrumentarium begrifflicher Orientierung, nur ist ihre Ordnung hier nicht spezifiziert.

Wir wollen uns daher fragen, ob es allgemeine Ordnungsprinzipien geben könnte, die der Architektur der Formen und Denotatoren entsprechen, und welche den Spezialfall der alphabetischen Ordnung natürlich einschliessen.

Wenn wir das erledigt haben, sind wir auch imstand, genauer zu sagen, was denn eigentlich "Navigation" bedeuten soll. --

Wir wollen hier Ordnung als totale Ordnung "<" auffassen, d.h. für je zwei Objekte x, y eines geordneten Bereichs ist immer

entweder x = y

oder dann

entweder x < y oder y < x (nie beides zugleich),

ferner ist

mit x < y und y < z immer x < z

(Transitivität der Ordnung).

Totale Ordnung unter den Denotatoren

Wir konzentrieren uns in diesem Zusammenhang auf Formen, die nicht zirkulär definiert sind, die also nach einem endlichen "Abstieg" in ihre Koordinatoren zu Simple-Typen gelangen. Das vereinfacht die Diskussion für unseren Rahmen.

Daher starten wir mit Ordnung auf Denotatoren des Typs Simple. Wir haben dann jeweils als Denotatoren Objekte der Gestalt

DenotatorName:@Form(c),

wo c ein Element von <ASCII>, Boole, Z order R ist. All diese Koordinatoren sind klassisch bekannt als total geordnete Bereiche (siehe auch Bild 141):

x = a1 a2 .... und y = b1 b2 ....

Dann ist x < y falls a1 < b1, oder falls a1 = b1 und die Restwörter a2... < b2... erfüllen.

Die Ordnung auf Wörtern kann man zuerst mal grundsätzlich benutzen, um die simplen Denotatoren grob zu "sortieren" nach den auftretenden Strings: man ordnet zwei Denotatoren

x = x_DenotatorName:@x_Form(x_c),

y = y_DenotatorName:@y_Form(y_c)

zuerst lexikographisch nach dem Namen der Formen, dann lexikographisch nach den Denotatornamen, und dann (wenn also sowohl Form-Name als auch Denotator-Namen übereinstimmen) nach den Koordinatoren, die nun ja aus ein und demselben einfachen Koordinator stammen müssen.


Übung:

Die Formen: H:.Simple(<ASCII>), L:.Simple(<ASCII>),
die Denotatoren x = hoehe:@H(c7), y = laut:@L(mf),
wegen H < L haben wir x < y.
Entscheide über
x = hoehe:@H(c7), y = hoehe:@H(cis6)
(beachte: in ASCII kommen einstellige Zahlen vor Buchstaben).


Ordnungen

Bild 141: Totale Ordnungen auf den vier einfachen Koordinatoren


Um nun Denotatoren den anderen Typen zu vergleichen, ordnen wir (willkürlich, aber nicht ohne Sinn für mathematische Komplexität) die Typensymbole so:

Simple < Syn < Product < Coproduct < Powerset

Wir sortieren dann zwei Denotatoren x, y zuerst nach den Typen ihrer Formen. Wenn Typ(x) <Typ(y), setzen wir x < y.

Innerhalb der Denotatoren gleichen Typs sortieren wir nach den Form-Namen, die ja als ASCII-Wörter geordnet sind.

Wenn x und y die gleiche Form haben, sortieren wir sie nach Denotator-Namen, auch wieder ASCII-Wörter.

Wir sind jetzt bei dem Fall angelangt, wo x und y alles gleich haben bis auf die Koordinaten, wir können uns also auf die Koordinaten von x und y konzentrieren, alles andere ist gleich, also

x =DenotatorName:@Form(x_c),

y = DenotatorName:@Form(y_c).

Den Fall der Simple-Typen haben wir schon abgehakt. Für die anderen Fälle gehen wir so vor (siehe Bild 142).


compound

Bild 142: Ordnung unter nicht-simplen Denotatoren



Product-Ordnung

Bild 143: Ordnung auf Denotatoren vom Product-Typ


Ein Beispiele sieht man in Bild 143, unten: Wir haben den Raum der Klavier-Noten und betrachten die ersten beiden Koordinaten Onset und Pitch. Die Töne der Partitur sind geordnet in der Reihenfolge des durch alle Noten gezogenen Pfeils. Diese Ordnung ist also ganz natürlich: Zuerst die Noten der Einsatzzeit nach geordnet, dann bei gleicher Einsatzzeit der Tonhöhe nach, etc.

Powerset

Bild 144: Ordnung vom Powerset-Typ


Wir geben zwei Denotatoren P und Q, also im wesentlichen Mengen, deren Koordinaten alle Denotatoren von der Form F sind. In Bild 144 sind die entsprechenden Elemente bei P als Kugeln, bei Q als Sternkörper gekennzeichnet. Wir bilden nun die Differenzmengen P-Q und Q-P, welche disjunkt sind, da wir die gemeinsamen Elemente eliminiert haben. Ist eine der beiden Differenzmengen leer, etwa P-Q, dann ist P eine Teilmenge von Q und wir setzen P < Q. Sind beide Differenzmengen nicht leer, dann hat P-Q ein grösstes Element p_ max und Q-P ein grösstes Element q_max , unter denen wir vermöge der totalen Ordnung in F schon vergleichen können. Wir setzen dann P < Q, falls p_max < q_max und Q < P falls q_max < p_max . Natürlich muss man zeigen, dass so wieder eine totale Ordnung auf den Powerset-Denotatoren über F definiert wird. Aber das ist eine rein mathematische Tatsache, die wir hier nicht beweisen werden.

Ein Beispiel für diese Ordnungsrelation zeigt Bild 145.


Klaviernoten-Ordnung

Bild 145: Ordnung unter Mengen von Klaviernoten


Damit wurde das gesamte System der Denotatoren total geordnet, und wir haben überall dort, wo Wörter auftauchen, die klassische lexikographische Ordnung übernommen. Damit ist die Ordnung der Encyclopédie natürlich eingebettet in unsere Ordnung. Es ist aber auch unsere Ordnung rekursiv definiert: Wir haben nicht eine wilkürliche Ordnung von Fall zu Fall eingeführt, sondern ein generisches Verfahren, das immer wieder dieselben Konstruktionsregeln benutzt und damit eine universelle Ordnung auf Denotatoren ermöglicht.

Man kann sich natürlich fragen, ob denn diese "Ordnungswut" etwas mit Musikwissenschaft, mit Wissen überhaupt, zu tun habe. Das sieht zunächst nach Buchhaltung aus, und nicht nach der Tiefe, die man beim Versuch, Musik zu verstehen, anstrebt.

Hier spielt aber gerade die Definition, welche wir anfangs von Wissen gegeben hatten, nämlich als geordneter Zugriff auf Information. Wenn man das Weltwissen über Musik beherrschen will, muss man sich darin zurechtfinden, muss man die Information, die man besitzt auch durchforsten können, jederzeit, und unabhängig vom aktuellen Stand. Durchforsten ist natürlich unverzichtbar, wenn man Aussagen machen will über das Repertoire, über das Vorkommen von Akkord-Sorten, über die Verteilung von Melodien oder Motiven in bestimmten ethnischen Kontexten. Ordnung ist auch unverzichtbar in der Klassifikation von Melodien, wenn man den rechtlichen Standpunkt des Copyrights vertritt. Etc.

Und die Unabhängigkeit der Ordnungsprinzipien vom aktuellen Stand ist darum essentiell, weil man so immer nach einigen wenigen Regeln Ordnung nutzen und erzeugen kann. Anderenfalls würde es ja nötig sein, wachsende Sammlungen von musikalischer Information immer wieder neu und willkürlich zu ordnen. Wir würden vor einem typischen Year-2000-Problem stehen, das daher kommt, dass man die Kalenderzeit nicht universell und dynamisch geordnet hat. Man hatte u.a. geglaubt, Programme wären ohnehin im Jahr 2000 ganz anders. Wenn man diese Haltung im Aufbau des Weltwissens einnimmt, ist eine babylonische Sprachverwirrung unvermeidlich.

Ich muss hier betonen, dass diese Ordnungs-Philosophie nichts zu tun hat mit Reglementierung der Kunst selber. Die Kunst selber ist aber nicht die Wissenschaft, sondern ihr Gegenstand, und hier geht es um Wissenschaft. Unser Anliegen ist also keineswegs "totlitär" sondern eine genuines betreffend die universelle Orientierung im Wissen.

Passive und aktive Navigation

Das Wort "Navigation" kommt vom lateinischen navigare ~ navem agere, das Schiff steueren und fortbewegen. Im Gegensatz zur heutigen Bedeutung von Navigation als einem orientierten Durchfahren eines Meeres (von Wissen oder von was auch immer) ist das ursprüngliche Wort auch mit einer aktiven Seite geladen: man fährt nicht nur mit einer guten Karte bestückt, aber ohne grosse Aktivitäten durch das Meer, man bewegt das Schiff auch vorwärts.

Ich will darauf hinaus, dass im Zeitalter der Wissensgesellschaft "Navigation" auf diese doppelte Wurzel reflektiert werden sollte.

Die erste Sorte: passive Navigation, ist das was man normalerweise auch visuell oder unterstützt durch auditive Zeichen unternimmt, wenn man im Intrenet, in Datenbanken oder in digitalen Bibliotheken surft. Es werden zur Zeit diverse Modelle solcher visueller Navigation entworfen, welche alle auf entsprechenden Orientierungsparadigmen von Ordnungen (nicht immer totalen) basieren.

Ein erstes Beispiel, das aus der 1997er Arbeit von Marti A. Hearst / Xerox Park stammt, zeigt Bild 146, oben.


Bibliotheksparadigma

Bild 146: Bibliotheksparadigma digitaler Wissensbanken (oben) und neurologischer Atlas des Menschen (unten)


Wir haben also die Coprodukt-Typologie auf einer Reihe von Büchern, die in Büchergestellen plaziert sind, welche eine Gruppierung in Unter-Coprodukte erzeugt. Natürlich hat diese digitale Bibliothek einige raffinierte Features: Man kann beliebig tief in Bücher hinabsteigen und entsprechende Links zu anderen Büchern heraufholen und die entsprechenden Werke in beliebiger Zahl neben dem aktuellen Buch "auf den Arbeitstisch legen". Wie chaotische es dabei zugehen kann, kann sich jede LeserIn vorstellen, die einmal eine umfangreiche Recherche vor sich hat liegen sehen...

Ferner ist dieses Pardigma zu speziell, denn mit Coprodukten ist es bald zuende, sobald man in Einzelheiten eines Buches einsteigt. Das Paradigma benötigt offensichtlich eine Extension auf andere mögliche Objekt-Formen und Form-Typen. Das Bild 146, unten, zeigt, was man "sieht", wenn man ein digitales Buch öffnet: eine ganz anders geartete Raumsituation der Neurologie. Die Bibliotheks-Metapher isf für die Karten dieser Wissensgeographie nicht geeignet.


Mackinlay

Bild 147: Organic User Interface von Mackinlay et al. (oben); Klassifikation der Navigationswerkzeuge nach Gloor (unten)


Einen anderen Versuch, die Vielfalt von Anhäufungen von Literaturrecherchen zu visualisieren zeigt die "Organic User Interface" oder "Butterfly" von Mackinlay et al. (Bild 147, oben). Allerdings ist dieser "Schmetterling" eher ein Verwirrspiel, jedenfalls ohne nähere Erklärung. Aber das Beispiel zeigt, wie intensiv und verzweifelt man gegenwärtig an visuellen Orientierungswerkzeugen arbeitet.

Unten in Bild 147 zeigen wir eine Klassifikation der Navigationswerkzeuge nach Peter Gloor: man kann linken, textuell suchen, Sequenzen von Orten als Weg aufbauen, hierarchisch surfen, Æhnlichkeiten erforschen, Übersichtsgeographien einblenden, oder Agenten nutzen, die einem die Arbeit abnehmen sollten...


Übung:

Abschliessend zur passiven Navigation diskutieren als wir als Übung miteinander Möglichkeiten der visuellen Navigation aufgrund des Ordnungsparadigmas auf Denotatoren.


Neben dieser passiven Navigation sollte man aber in einer modernen Enzyklopädie auch aktiv navigieren können. Was ist darunter zu verstehen?

Wenn man in einer Enzyklopädie Fakten abruft, ohne neue Erkenntnisse zu erzeugen, ist dies grundsätzlich eine passive Wissensarbeit. Hingegen kann man auch Fragen stellen, deren Antworten noch nicht zwingend in der Enzyklopädie enthalten sind, so z.B. nach der Verhältniszahl des Werkanteils bei Beethoven, wo Kadenzen von Molltonarten vorkommen, die harmonisch Moll und nicht natürliches Moll aufweisen, gegenüber diesem Werkanteil bei Mozart. Dies kann eine schwierige Recherchier- und Gedankenarbeit bedeuten, wo neue Erkenntnisse erst zu erstellen sind, weil noch niemand die Antwort auf diese Frage auf die Enzyklopädie gelegt hat.

Dies ist aktive Navigation: Fragen stellen, den Motor der Frage zur aktiven Bewegung durch das Wissen nutzen und evtl. die Software, so vorhanden, dazu nützen, komplexe Datenbanken zu durchforsten und auszuwerten.

In der RUBATO-Software sind die analytischen Rubetten und insbesondere die LoGeoRUBETTE (LoGeo = Logisch-Geometrisch) dazu entworfen worden, aktiven Wissensnavigation zu leisten, eine Arbeit, deren Resultat den enzyklopädischen Korpus nachhaltig erweitert.

Ich werde im nächsten und letzten Kapitel Beispiele solcher aktiven Navigation besprechen.

ZURÜCK WEITER