Semiotik ist die Lehre der Zeichensysteme. Da Musik und ihre Wissenschaft ganz massiv mit Ausdruck und Inhalt, mit Form und Bedeutung befasst sind, ist es unumgänglich, den semiotischen Rahmen hier als propädeutische Leistung für einen tauglichen Begriffsapparat aufzuspannen. Wir werden dies nur soweit tun, als es unentbehrlich ist für unsere Belange. Für weitergehende Reflexionen verweise ich auf meinen Artikel Nr. 152 "Semiotische Apekte der Musikwissenschaft: Musiksemiotik" im Handbuch der Semiotik, Bd. 3. Eine Vorversion des Artikels ist über das Internet erhältlich.
Es ist aber auch notwendig, die ontologische Topographie der Musik kurz zu skizzieren, um gröbste Missverständnisse zu vermeiden.
Kant hat in der Kritik der reinen Vernunft einen Begriff als logischen Ort beschrieben. Wir wollen in diesem Sinne fragen: Wo ist der logische Ort von Musik? Das bedeutet insbesondere, dass wir Begriffe nicht nur als abstrakte Dinge beschreiben wollen, sondern als Orte des Denkens.
Mit dieser Raum-Metapher soll von Anfang an die klassische Idee, dass Gedanken oder zumindest die Gegenstände des Denkens, die Begriffe, in einem wie auch immer gearteten 'Raum des Wissens' stattfinden.
(Es ist hier eine interessante Bemerkung angebracht: Auch in der heute aktuellen objektorientierten Programmierung sind die Objekte grundsätzlich als Punkte in Räumen gedacht, nämlich als Instanzen von Klassen!)
Zunächst muss man die Realitätsebenen, an denen Musik teilhat, identifizieren. Hören wir etwa Schumanns dritte Kinderszene, den "Haschemann" an:
Was wir hören, ist eine akustische Realität. Ist dieselbe bereits Musik? Sicher ist sie ein Teil von unserem Begriff der Musik. Aber wir haben auch die hinter der akustischen Wiedergabe verborgene Partitur zu beachten. Sie existiert auf ganz andere, nämlich symbolische oder mentale Weise, wie etwa eine mathematische Formel. Die Partitur ist von der akustischen Aufführung als symbolische Tatsache fundamental verschieden.
Aber es kommt noch eine dritte Seite zu dem hinzu, was wir mit dem Begriff der Musik assoziieren: Die Aufführung des Klavierstücks erzeugt Gefühle der gehetzten Seele, die wir als Hörerinnen und Hörer oder während der Komposition wohl auch Schumann resp. Argerich als Interpretin mit dem Stück verbunden haben. Auch diese dritte seelische oder psychische Realitätsebene ist Bestimmungsstück des Musikbegriffs:
Musik nimmt also an den insgesamt drei fundamentalen Realitätsebenen der Physis, des Geistes und der Psyche teil. |
Man beachte, dass wir in keiner Wiese eine dieser Ebenen als sekundär auffassen oder gar als verzichtbar. Ein Reduktionismus dieser Art ist weder realistisch noch ontologisch vertretbar.
Wir bemerken ferner, dass alle sonstigen Realitätsebenen, an die man Musik knüpfen kann, etwa die soziale Ebene, sich ohne Mühe als von den fundamentalen Ebenen abgeleitete Ebenen verstehen lassen.
Neben ihrer Verteilung auf mehrere Realitätsebenen besitzt Musik eine grundlegend kommunikative Dimension: Musik ist auch Mitteilung. In der Theorie der künstlerischen Kommunikation, wie sie von Jean Molino entworfen worden ist, wird Kommunikation in drei Bereiche unterteilt: Poiesis, neutrales Niveau und Aesthesis.
Poiesis meint den Schaffensprozess: Kunst wird immer von jemand gemacht, hervorgebracht, das griechische Wort poiein = machen, welches hinter Poietik steht, verweist auf diesen Ursprung künstlerischer Kommunikation. Bild 18 zeigt zwei Arten der Poietik: Arnold Schönberg während seiner kompositorischen Arbeit im amerikanischen Exil, und die beiden Jazz-Musiker Peter Brötzmann (sax) und Cecil Taylor (piano) bei einer Spontankomposition des Free Jazz in Berlin 1989.
Das Werk ist also als Resultat der poietischen Arbeit ein selbständiges Objekt, das nicht verwechselt werden kann mit dem Herstellungsprozess und seinen Parametern. Dieses meint Molino mit dem Begriff des neutralen Niveaus.
Zu diesen beiden Ebenen der Kommunikation gesellt sich die Instanz des Empfängers. Eine Aufführung wird gehört, verstanden (oder auch nicht) und beurteilt. Das Klatschen!! Es kommt vom Auditorium, siehe Bild 21 (zusammen mit dem Komponisten guckt man in unserem Bild auf's Werk) und von den Kritikern....
Selbstredend ist diese dritte Schicht der Aesthesis (Begriff von Paul Valéry, damit man ihn nicht mit dem Begriff der Aesthetik verwechselt), also dem Wahrnehmen, Verstehen und Beurteilen des Werkes, weitgehend verschieden sowohl von der Poiesis als auch vom neutralen Niveau. Wir haben also diese drei kommunikativen Koordinaten:
Kommunikation geht aus von der Poiesis des Schöpfers, schlägt sich nieder im neutralen Niveau des Werkes und wird empfangen als Aesthesis im hörenden Verstehen!
Zu den Dimensionen der Realitätsebenen und der Kommunikation kommt noch die Dimension der Bedeutungsfähigkeit von Musik hinzu. Betrachten wir dazu das Lied Candle in the Wind, das Elton John an Prinzessin Dianas Trauerfeierlichkeiten am 6. September 1997 in der Westminster Abbey vor einer halben Milliarde Zuschauer weltweit dargeboten hatte, siehe Bild 22.
Musik fungiert ganz allgemein als Zeichenträger für Sport, Staats-Zeremonien und Gesellschaft. Musik ist allgegenwärtig gerade in ihrer Funktion als Verweis auf Bedeutung.
Dieser Aspekt ist allerdings nicht nur auf dieser globalen Ebene wichtig, wo Musik als Ganzes Bedeutung hervorruft, er ist auch ganz wesentlich innerhalb der Musik als autonome Struktur präsent. So ist denn das berühmte Diktum von Eduard Hanslick in seinem Jahrhundertwerk Vom Musikalisch Schönen (1854):
Der Inhalt der Musik sind tönend bewegte Formen. |
eine Bestimmung des Zeichencharakters von Musik: Sie hat eine Ausdrucksebene und eine Inhaltsebene, ist also auch für sich genommen (bei Hanslick nicht als Mittel für Staatszeremonien und dergleichen) bedeutungsfähig. Kurz:
Zusammenfassend kann man also eine dreidimensionale ontologische Topographie der Musik erkennen, siehe Bild 23. Wir haben die drei Achsen der Realitätsebenen, der Kommunikation und des Zeichensystems. Dies ist nur eine erste Orientierung, die Details werden wir im Verlauf dieser Vorlesung entwickeln.
Vor diesem Hintergrund möchte ich eine entsprechende Charakterisierung von Musik präsentieren:
Musik ist Mitteilung, hat Bedeutung und vermittelt physisch zwischen ihren psychischen und geistigen Ebenen. |
Wichtig ist daran, ich deutete es schon an, der grundsätzliche Verzicht auf Reduktionismus: Es geht z.B. nicht darum, zu sagen, "eigentlich ist das Emotionale nur eine Umschreibung von neuronalen Prozessen", oder "die musikalische Notation in der Notenschrift ist nur eine unbeholfene Darstellung eigentlich physikalischer Ereignisse".
Für Reduktionismus gibt es weder ontologischen Bedarf, noch ist er das erste Ziel der Wissenschaft: Zuerst muss man die Entsprechungen herstellen, bevor man dann eine Ebene durch die andere ersetzen kann.
Wir wollen nun die Achse der Semiotik, also der Zeichenhaftigkeit von Musik, genauer diskutieren. Wir halten uns dabei an die aus den Arbeiten des Schweizer Linguisten Ferdinand de Saussure in seinem berühmten Cours de linguistique générale (1916, Payot, Paris 1922) an der Universität Genf entwickelten sogenannten strukturalistischen Semiotik oder Semiologie.
Für Einzelheiten verweise ich auf den erwähnten Artikel zur Semiotik der Musik im Internet. (Eine knappe, aber gute Einführung in die Semiologie gibt Roland Barthes: Elemente der Semiologie, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1983.)
Saussure ist neben dem amerikanischen Philosophen Charles Sanders Peirce, dem es um eine universelle Art und Weise der Darstellung des Wissens (grammatica speculativa, um 1865) ging, der führende Schöpfer der modernen Semiotik. Beide haben gemeinsam, dass sie formale Darstellung von Wissen thematisieren in seiner Entstehungsgeschichte und als System.
Ein Zeichen ist etwas, was auf bestimmte Weise für ein Anderes steht; "aliquid stat pro aliquo". |
Verschiedene Autoren benennen diesen Sachverhalt unterschiedlich, aber es steckt immer dieselbe Idee dahinter.
Die folgende, volkstümliche Sprechweise: Volkstum: Zeichen/.../Bedeutung wollen wir nicht übernehmen.
Ein Zeichen ist immer das Ganze, nicht nur der Ausdruck. Es besteht immer als Ganzheit seiner drei Teile. Wir symbolisieren diesen Zusammenhang (mit Hjelmslevs Terminologie) in den folgenden Beispielen durch
Ausdruck > Inhalt |
(die Relation also durch einen Pfeil).
Ich will hier keine genauere Definition eines Zeichensystems geben, denn eine solche wäre schwierig. Ich will aber die drei charakteristischen Bereiche Syntaktik, Semantik und Pragmatik eines Zeichensystems vorstellen:
1. Offenbar kommt es darauf an, dass eine Semiotik es erlaubt, ihre Zeichen miteinander zu verknüpfen, um daraus neue Zeichen herzustellen. Diese Eigenschaft heisst Syntaktik. Das wirkliche Nebeneinander von Zeichen in Zeichenkomplexen heisst das Syntagma des Systems. In der Sprache sind etwa Sätze "Claudias Auto ist blau." typische Syntagmen. Die Syntaktik bestimmt also das Nebeneinander der Zeichen. Bedeutungstragende Einheiten eines Syntagmas heissen Morpheme. In unserem Beispiel aus der Sprache also die Wörter.
Eine Grammatik wäre also ein Regelsystem, welches die Herstellung von Syntagmen anhand von Zeichenklassifikationen beschreibt.
2. Während die Syntaktik gewissermassen die horizontale Beziehung des Zeichensystems beschreibt, befasst sich die Semantik mit der vertikalen Ausdehnung, d.h. mit den Bedeutungen, welche den Zeichenkomplexen zugeordnet sind.
Synonyme sind in diesem Sinne Zeichen, die dieselben Inhalte haben, aber verschiedene Ausdrücke. ZB: 2+3 und 7-2.
Homonyme sind Zeichen mit gleichem Ausdruck, aber verschiedenem Inhalt, zB. Zug -> Eisenbahn, -> Stadt, -> Luftströmung.
3. Schliesslich gilt es auch, sich mit dem Gebrauch der Verweisprozesse von Zeichen zu befassen, der Pragmatik. Sie befasst sich auch mit der Verbindung zwischen Ausdruck und Inhalt, der Saussurschen "Signification" oder Hjelmslevschen "Relation".
Bemerkung: Beispiele von Zeichensystemen sind etwa auch Programmiersprachen, in denen die Bedeutung des Codes durch die Compilierung hergestellt wird und als ausführbarer Code (Programm) der Maschine während der Laufzeit eine Zustandskette verpassen kann.
In der sogenannten Computer-Semiotik werden diese Dinge ausführlich beschrieben und untersucht. Siehe etwa: Peter Bøgh Andersen: A Theory of Computer Semiotics.
Berühmt geworden sind in Saussures Theorie die Strukturbeschreibungen eines Zeichensystems, die sogenannten Saussure-Dichotomien. Sie heissen so, weil sie immer paarweise auftretende Eigenschaften beschreiben. Hier die Liste der Dichotomien:
Signifiant/Signifié |
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die eigentlich eine Trichotomie ist, aber bei Saussure vor allem in der Zweiheit Ausdruck/Inhalt auftritt. (Das Mittelglied der Signification wird dabei unterschlagen.)
Arbitraire/Motivé |
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Sie beschreibt die Art und Weise, wie die Signification (in unserer Symbolik der Pfeil "->") zustandekommt. Beispiel: Onomatopoie ("Kikeriki") erzeugt Bedeutung auf eine Art und Weise, bei der man einen Weg findet, die Bedeutung zu erraten, sie ist motiviert und nicht beliebig. In der Sprache ist der Normalfall aber Beliebigkeit (arbitraire). Normale Wortdefinitionen kann man nicht auf ihre Bedeutung hin erkennen, man muss die willkürlichen Setzungen einfach wissen.
Syntagma/Paradigma |
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(Siehe Bild 24 für ein Beispiel.) Während das Syntagma das konkrete Nebeneinander von Zeichen im System meint, also in einer Sprache etwa das Nebeneinander der Wörter in Sätzen, bezieht sich Paradigma auf das assoziative Feld, welches ein Zeichen um sich erzeugt. Dies meint den Bereich aller Zeichen, deren Zeichenbedeutungen zum gegebenen Zeichen verwandt sind.
Wir werden auf diesen Unterschied noch zu sprechen kommen, denn die paradigmatische Beziehung "in absentia" ist viel schwieriger zu verstehen als die syntagmatische Nachbarschaft "in präsentia", und das hat schwere Konsequenzen etwa für paradigmatische Kompositions- oder Analyseverfahren.
Langue/Parole |
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Langue meint die soziale und vom Individuum unabhängige Struktur des Zeichensystems.
Im Gegensatz dazu meint Parole das Sprechen, individuelle Akte, mit denen die sprechende Person das System verwendet.
Synchronie/Diachronie |
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Jedes System entwickelt sich in der Zeit. Die Momentanaufnahme eines Zeichensystems zu einem gewissen Zeitpunkt nennt man Synchronie oder synchrone Achse des Systems. Typisch für synchrone Strukturen sind die herrschenden Kommaregeln oder etwa der momentane Slang "cool"; in der Informatik: das gerade geltende Operating System; in der Musik: der gegenwärtig geltende Begriff von Klang, die dominierende Schule der Musiktheorie.
Die Diachronie oder diachrone Achse betrifft die Veränderungen des Zeichensystems im Lauf der Zeit. Typisch dafür ist die etymologische Spur eines Ausdrucks: Disziplin ~ disciplina ~ dis-capere; (D) virtuell ~ (E) virtual inklusive Bedeutungsverschiebung; manchmal geschieht dies auch abrupt, so etwa in der Rechtschreibereform: Potential ~ Potenzial; Spaghetti ~ Spagetti. Oder in der dramatisch schnellen diachronen Veränderung von Betriebssystemen:
Bemerkung: Die Musikwissenschaft hat gerade in der Beziehung zwischen Synchronie und Diachronie eine hochsensible und problematische Problemstellung, da die Invarianten oder das Transformationsverhalten in der Zeit oder im kulturellen Raum schwer zu beschreiben sind. Was allerdings nicht heisst, dass ein globaler, über Raum und Zeit ausgelegter Begriffsraum nicht möglich wäre. Die historische und kulturelle Variabilität von Musiken und Musiktheorien ist kein Grund, die Existenz von übergreifenden Theorien zu verneinen. Geschichte ist immer auch Geschichte von etwas, darauf hat auch Carl Dahlhaus im Neuen Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. X, nachdrücklich und zu recht hingewiesen.
Lexem/Shifter |
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Nicht alle Zeichen haben eine stabile Bedeutung in einem Zeichensystem. Stabile Bedeutung kann in einem Lexikon festgehalten werden, zB. Katze = vierbeiniges Säugetier etc.... Aber es gibt Zeichen, die man zwar in Lexika findet, deren Bedeutug aber damit bei weitem nicht vollständig instanziert wird: Pronomina wie "Ich", "Du",...oder Ortsbezeichnungen "hier", "dort",..., oder Zeitwörter "jetzt", "gestern".
Im Lexikon findet man in der Tat unter "Ich, das": Pronomen der ersten Person singular. Aber der Gebrauch, den ich davon mache, addiert eine ganz wesentliche Bedeutung zur lexikalischen Komponente. Shifters sind die komplexesten Zeichen der Sprache: Sie werden denn auch von Kindern zuletzt erworben und gehen bei Aphasie zuerst verloren!
Der belgische strukturalistische Linguist Louis Hjelmslev hat die axiomatische Semiotik um ein sehr starkes Konstruktionsprinzip bereichert: das rekursive Hjelmslev-Schema. Es besagt, dass in einem Zeichensystem, das wir so formal darstellen
(Expression | Relation | Content) ~ (Ex | Re | Ct) |
jede Schicht für sich wieder ein Zeichensystem bilden kann.
Damit wird die generische Struktur eines Zeichensystems beliebig verschachtelbar und so auch offen für realistische Konstruktionen komplexer Zeichensysteme. Denn in Wirklichkeit findet man kaum Zeichensysteme, die quasi atomar aus den drei Schichten Ausdruck (Expression), Relation, Inhalt (Content) bestehen. Es treten die folgenden drei Fälle auf:
1. Metasemiotik: Der Ct-Bereich ist ein Zeichensystem:
(Ex | Re | Ct) = (Ex | Re | (Ex1 | Re1 | Ct1)) |
2. Konnotationssemiotik: Der Ex-Bereich ist ein Zeichensystem:
(Ex | Re | Ct) =((Ex1 | Re1 | Ct1) | Re | Ct) |
3. Motivationssemiotik: Der Re-Bereich ist ein Zeichensystem:
(Ex | Re | Ct) =(Ex | (Ex1 | Re1 | Ct1) | Ct) |
Man denke nach über die folgenden Beispiele:
Wir werden uns nun nur mit der "autonomen" Musik befassen, also nicht mit gesellschaftlichen (religiösen, politischen) Konnotationen.
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