Wir diskutieren zuerst das, was man als ganz normale Sequenzer-Software kennt, am Beispiel des LOGIC-Progamms der Hamburger Firma e-magic (vormals C-Lab), dann das auf dem syntagmatischen LEGO-Prinzip basierende MAX-Programm, und schliesslich das paradigmatisch konzipierte PRESTO-Programm.
Sequenzer-Programme sind heute sehr verbreitet und haben auch eine relativ stabile Funktionalität erreicht. Wir betrachten einen der am meisten verbreiteten und erprobten Sequenzer, das Programm LOGIC (vormals NOTATOR) von e-magic.
Ein Sequenzer ist eine vor allem an MIDI gekoppelte Software, die das Paradigma eines Tonbandgerätes als Software übernimmt und natürlich mit den entsprechenden Verbesserungen versieht. Das heisst, ein Sequenzer erlaubt dies:
Das Paradigma des Tonbandes wird ganz prominent auch in der Aufteilung in Tracks oder Spuren übernommen, also Teilen des gesamten Musikstücks, die aus Gründen der Stimmenverteilung oder einfach organisatorisch in getrennten Bereichen verarbeitet werden.
Das mittlere Fenster zeigt dieselbe Komposition als Schichtug von vier Spuren, die je noch Namen tragen, hier einfach "String Quartet" in der ersten Spur etc. bis "The Art of Fugue - BWV 1080" in der vierten Spur.
Man kann Spuren einzeln bearbeiten, sie zusammenmischen (mergen), kopieren, etc. Das Konzept der Spuren ist eine typische globale Technik der Überdeckung des Musikstücks mit quasi-geographischen Karten, über die wir in Abschnitt unten über die Software presto noch ausführlicher sprechen werden.
Rechts unten sieht man das "Transportfenster" (schlechter Name!). Hier kann man die elementaren Tonband-Abspielfunktionen aufrufen: Play, Stop, Fast Forward, Fast Back, Interrupt, etc. Hier ist es auch möglich, das momentane Tempo neu zu setzen, typisch mit Doppelklick auf die Tempozahl.
Unten links sieht man die entsprechende Information als textuelle Darstellung (entsprechend hässlich) aufgeführt in einer Liste, wo jede Zeile ein Event darstellt. Links kommt zuerst die Position der Einsatzzeit im Taktgefüge, dann die Objektsorte (Note), dann die MIDI-Kanalnummer, der Programmchange, die Velocity, die Dauer, alles in Vierteln, Achteln, etc., also klassisch musikalischen Grössen.
Oben rechts sieht man einen Ausschnitt der Tempo-Treppen-Struktur. Wir wissen, dass MIDI keine Tempokurven, sondern nur diskrete Tempo-Ereignisse hat, zwischen denen das Tempo konstant bleibt.
Diese Folge von Tempoereignissen wird in der rechts unten sichtbaren Liste dargestellt. Während man diese Liste als Text editieren kann, ist das natürlich in der obigen graphischen Tempo-Graphik auch graphisch möglich.
Dies ist auch wieder ein Gegenbeispiel zu Datenfriedhöfen. Die Musikdaten sind zwar sichtbar und erkennbar in allen Formaten, wie man es aus klassischen Papier-Dateien kennt. Man kann alles aber auch stets verändern. Es sind Zeichen, die ihre Bedeutung weitgehend "verinnerlicht" haben. Wir müssen sie nicht exklusiv selber wiederherstellen. Wissen liegt also viel mehr als früher vor uns und ist operationalisiert. |
Komposition im engeren Sinne wird durch andere Software unterstützt. Es gibt dazu zwei grundsätzliche verschiedene Ansätze. Diese orientieren sich an den grundlegenden Saussureschen Achsen aller Zeichensysteme: der Syntagmatik und der Paradigmatik.
Es ist offenkundig, dass das syntagmatische Komponieren viell leichter und "automatischer" geht als das paradigmatische Verfahren. Wir werden das nun genauer diskutieren anhand zweier typischer Vertreter dieser Ansätze.
MAX steht für Max Mathews, dem Pionier, welchem wir schon in der Klangsynthese begegnet waren. Die Software MAX, welche seit 1985 von Miller Puckette und Dave Zicarelli entwickelt wurde und nun von der Firma Opcode vertrieben wird, ist ein typisches syntagmatisches Kompositions-Werkzeug.
MAX verfolgt ein graphisches Konzept, welches dem der visuellen Programmierung entlehnt ist. Man setzt wie damals in der Music-N die Unit Generatoren nun Kästchen auf dem Bildschirm aus und verbindet sie mit "Kabeln", so dass sie aufeinander einwirken und Befehle austauschen, Zahlen weitergeben, und so schliesslich Klänge und Klanggestaltungsregeln ausgeben. Das kann als MIDI oder als Audio-Signal geschehen, es spielt keine Rolle.
Die Funktionsgruppen von MAX heissen Patcher Object und sind Agglomerate, die aus drei Objekt-Sorten zusammengesetzt sind (siehe Bild 120):
Die Konfiguration eines Patcher-Objekts kann man im Edit-Mode verändern und im Run-Mode laufenlassen, d.h. drauf klicken etc., wir haben unten ein Beispiel bereit.
Die Message Boxes senden Botschaften quasi "drahtlos" an sogenannte receiver objects (controller), die dann diese Botschaften weiterleiten. In unserem Beispiel werden unter Nummer 1 die Message Boxes für den Start und die Beendigung einer Klang-Generierung benutzt.
Die start-Botschaft geht an das [receive dac] object unter Nummer 2 (dac =digital to audio converter). Dies sagt dem Signalprocessing-object [dac~], es soll den Oszillator [osc1~] laufen lassen. Die Frequenz des Oszillators wird durch das Objekt [receive freq] definiert, welche dem Controller [sig~440], welcher grundsätzlich 440 Hz sendet, eingegeben wird. Das Multiplikator-Objekt [*~] macht dann die richtige Frequenz aus den 440 Hz.
Die Frequenz ihrerseits wird durch das Control-Objekt [send freq] definiert, welche aus dem MIDI-Noteneingang [notein] die MIDI-Botschaft aus der Hardware des Systems bekommt. Das Controller-Objekt [stripnote] nimmt von der MIDI-Botschaft alles weg bis auf die Note-ON-Botschaft und sendet die MIDI-Key weiter, aus der eine Frequenz erzeugt wird, da ja die MIDI-Sprache keine direkte Frequenz angibt, wie wir wissen.
Dei Hüllkurve des Klanges schliesslich wird durch das Objekt [line~] definiert, welches so die Botschaft der Amplitude (der Lautstärke) überträgt, welche von der Message Box oben links mit der Amplitudenmeldung "amp 0.1 1000" kommt. Das bedeutet: Für eine Dauer von 1000 ms Amplitude vom Ausgangswert 0 am Anfang auf 0.1 gehen soll. Dort bleibt die Amplitude bis wir eine nächste Anweisung geben. Die anderen Boxen bei Nummer 3 sagen, dass die Amplitude während der Dauer von 2000 ms auf 0.1 gehen soll, das ist frei instellbar während des Ablaufs. Wir erkennen hier die radikal syntagmatische Situation: Realtime Composition, es passiert alles dem syntagmatischen Faden der realen physikalischen Zeit entlang!
Wir erkennen die gleichen Strukturen wie früher in unserem Klangmodell aus Wave, Envelope und Support (Bild 27).
Wie MAX funktioniert in einer künstlerischen Anwendung, zeigt Bild 121.
Essls Komposition Lexikon-Sonate ist auf dem Netz zu haben und kann bedient werden (siehe http://www.essl.at/works/Lexikon-Sonate.html). Sie ist aus modernen Klavierstilen hervorgegangen und soll den Hypertext-Roman Lexikon-Roman als variable Musikspur begleiten. Hier Essls Text im Internet:
Wir können auf dem Notebook etwas von der Sonate hören und mitgestalten:
Wir verfolgten am mathematischen Institut der Universität Zürich anfangs der achziger Jahre analytische Aufgabenstellungen und wir wollten vor allem graphische Konfigurationen auch transformieren im Sinne der Geometrie:
Nach Entwürfen auf der Basis von Magnetstift-Zeichnungen und Lämpchen etc. kamen damals die ersten Mikro-Computer und Synthesizer auf dem Markt. Wir konnten unsere Vorstellungen erstmals realisieren (Bild 122). Auf Bild 123 sehen Sie die "Tonmartrix", eine Ebene, worauf man Tonhöhe und Einsatzzeit von Tönen angeordnet hatte.Frühling 1984 wurde dieser Computer dann im Rahmen des Oster-Symposium zum Thema "Musik und Mathematik" in Salzburg Herbert von Karajan vorgestellt. Das Wesentliche an unserem Ansatz war nicht die graphische Darstellung, sondern die Transformation und Kombination von Musikmaterial. Darin geht der Ansatz wesentlich über den von Xenakis hinaus.
1987-1988 Entwicklung des ersten Prototypen von presto ("Music Designer Z71") in Zusammenarbeit mit der FhG/AGD von Prof. Encarnaçao in Darmstadt und auf Empfehlung von Herbert von Karajan.
In den Jahren 1989-1994 folgten Implementierung und Upgrading von presto bis Version 2.02 (Bild 124). Heute steht davon eine Version auf einem Atari-PC im Computermuseum von Siemens-Nixdorf in Paderborn...
Beispiele von presto-Kompositionen:
Es gibt also etwas in der Musikstruktur, welches man aus der Geographie kennt: Karten und Atlanten!
Mathematiker haben dies mit Bernhard Riemann (Habilitation 1854) als Mannigfaltigkeiten formal eingeführt. Gleichzeitig (1854: Vom Musikalisch Schönen) hat auch Eduard Hanslick musikalische Struktur als zusammengesetzt (Kaleidoskop aus Teilen) verstanden (Bild 125).
Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen Mannigfaltigkeiten in der Mathematik und Geographie einerseits, und der Musik andererseits:
Die Wahl der Karten! Sie in der Musik ist sie nicht beliebig, in der Mathematik aber kann man alles wählen, solange sich die Karten untereinander vertragen.
Man kann dies in zwei Bildern veranschaulichen (Bild 127).
Die Verteilung der Karten ist ganz zentral für das Verständnis der musikalischen Struktur. Wir machen ein kleines Beispiel (Bild 128).
Die presto-Software hat diese Erkenntnis übernommen und erlaubt es, Musik aus lokalen Teilen zusammenzukleben, welche man vorher für sich gestaltet hat. Der paradigmatische Zugang entsteht daraus, dass man die Karten untereinander als paradigmatisch verwandt auswählen kann.
Bild 130 zeigt die Hauptwerkzeuge, um die lokalen Perspektiven zu wählen und damit zu arbeiten.
Die Local Score Bild 131 zeigt den lokalen Arbeitsbereich, in welchem man auch noch kleine, und beliebig geformte "Färbepolygone", also Bereiche, definieren kann. Dies ist viel allgemeiner als in den normalen Sequenzern, wo man nur mit Tracks oder darin dann mit Rechtecken arbeiten kann.
Die Karten lassen sich nun auch mit mengentheoretischen Operationen kombinieren, also in ein Patchwork verwandeln. Dies ist eine der auch von Xenakis im UPIC anvisierten Kombinationsarten von "Partiturseiten", siehe Bild 133.
In der Score kann man alle Operationen des Kontrapunktes: Krebs, Umkehr, Krebsumkehr, Transposition, in der jeweiligen Ebene ausführen (also auch etwa in EL!)
In der Local Score kann man alle möglichen Verschiebungen plus alle möglichen Matrixtransformationen (=affine Transformationen) des 4D-Raumes EHLD durchführen (Bild 134).
Jede (affine) Transformation (mit ganzzahligen Koeffizienten) im n-dimensionalen Raum lässt sich als Verkettung auffassen von |
10' 445' 260' 466' 832' 483' 579' 436' 191' 905' 936' 640' 000 = 1.0445 10^37
Möglichkeiten (das ist die Kardinalität der allgemeinen affinen Gruppe über Z_71^4).....Demgegenüber ist die Zahl der Sterne in einer Galaxis "nur" rund 10^11.
Die Variationsstrategie des 2. Satzes: Messiaen-Raster als Ornamente
Wir starten hier mit Messiaen-Rastern, siehe Bild 135, links.
Die Transformation als "Symmetrisierung": Wir verdrehen die Messiaen-Raster, Bild 135 rechts.