1. Wechselwirkung von Komposition und Technologie

In der Computer-Community ist das Learning by Doing eine wichtige Grundhaltung und Einsicht. Diese Einsicht habe ich in der H@E-Studie analysiert hinsichtlich des Verhältnisses Wissen--Können. Es geht dort um die Frage, wieviel eigentlich Wissen von Können unterscheidet. Die jetzige Entwicklung deutet darauf hin, dass Wissen ohne Können immer suspekter wird, dh. Wissen wird zu einer Zugreifoperation auf Information, und Wissen, das nur behauptet wird in einer abstrakten Sphäre, kann nicht mehr bestehen.

Wortgebrauch ohne vertretbare Einlösung der Wortbedeutung kann damit nicht mehr akzeptiert werden oder muss allenfalls explizit deklariert werden. Ich zitiere dazu aus dem Buch Developing Object-Oriented Multimedia Software von Philipp Ackermann:

The fact that theoretical knowledge is considered superior to practical knowledge seems to be a cultural problem which also influences software design. By neglecting practical experience, we overestimate abstract conceptual thinking. Even at computer science departments some scientists behave as if concrete programming were menial work, something for less-skilled persons ("for retrained workers, not for sophisticated intellectuals"). In misunderstanding the role of making we have a one-sided opinion of thinking. In arguing against this conception, this chapter points out that the computer is a tool which opens a great opportunity to bring together both, practical as well as theoretical, concrete as well as abstract concerns. In this sense, computers are viewed as catalysts which can accelerate operative thinking.

Wir wollen Wissen definieren nicht als passiven Zustand, sondern als Aktivität, die immer nur durch ihren Vollzug zu sich selber kommt. Dies ist auch der Gesichtspunkt, den Niklaus Luhmann in seinem Werk Die Wissenschaft der Gesellschaft einnimmt.

Wissen ist geordneter Zugriff auf Information

Eine solche Operationalisierung des Wissensbegriffs und damit des Denkens hat im Musikdenken eine sehr lange Tradition, die sich auch darin ausdrückt, dass immer schon Instrumente und damit die aktuelle Technologie im Musikdenken eine grosse Rolle gespielt haben.

Musikwissen beinhaltet also zunächst Zugriff auf Tongebilde und Navigation in raumzeitlich variablen Tonordnungen. Auf abstrakterer Ebene wird dieser Zugriff komplexer und mittelbarer, aber er kann nicht umgangen werden.

Ferrucio Busoni hat in seiner 1906 aufgezeichneten und Rilke gewidmeten Æsthetik der Tonkunst neue Tonsysteme gefordert, eine durchaus auch technologisch gemeinte Aufforderung, die grosse Auswirkung auf die Musiktechnologie hatte. Busoni schwärmte vom Dynamophon, 1900 in Washington gebaut vom amerikanischen Ingenieur Thaddeus Cahill. Das Dynamophon war 200 Tonnen schwer und wurde für Telefon-Musik eingesetzt, man konnte sich über das Telefon Musik anhören, das war so etwas wie die Urform des heutigen Internet-Musikformats MP3 für Sound-Daten.



Cahill

Bild 2: Cahills Dynamophon


Historisch ist die operationelle Grundhaltung schon bei Pythagoras von Samos (ca. 570 - ca. 497/96 vor Christus) erkennbar.

Pythagoras

Bild 3: Pythagoras


Es ging bei den Pythagoreern um die tätige Einsicht in die metaphysische Tetraktys, dem Symbol der vollkommenen kosmischen Harmonie.

Tetraktys und Lyra

Bild 4: Lyra und Tetraktys


Die Tetraktys mit ihren 10 Punkten (10 war eine heilige Zahl) war nicht nur Gegenstand der Reflexion, sondern wurde durch Bespielen des Monochordes und der Lyra tätig nachvollzogen. Die Saiten der Lyra stellten Planeten dar: Saturn, Jupiter, Sonne, Mond, Mars, Venus, Merkur. Auf jedem Planeten sass eine Sirene mit einem Ton der Sphärenharmonie. Der Zusammenklang der Sphärentöne erzeugte die Harmonie der Sphären. Siehe Bartel L. van der Waerdens Buch Die Pythagoreer.

Diese Haltung ist später mit der Begründung der Musik durch ihre unmittelbare (also nicht metaphysisch vermittelte) Seelenwirkung, wie sie von Descartes in seinem compendium musicae 1618 beschrieben wurde, verloren gegangen.

Heute haben sich die im 17. Jahrhundert aufgespaltenen Perspektiven der symbolischen und der psychologischen Realität von Musik wieder versöhnt. Die seelische Wirkung von Musik ist zwar ein Thema, aber nicht als zwingende Begründung für Musiktheorie; allenfalls als Testbereich für die kognitive Relevanz von symbolischen Ansätzen. Der Vergleich mit Chemie in der Pharmazeutik macht die heutige Situation deutlich: Die chemische Formel beispielsweise von Valium ist zwar eine wichtige Perspektive struktureller Beschreibung. Es wäre gefährlich und technisch illusorisch, Pharmazeutika ohne genaue Kenntnis ihrer Strukturformel zu produzieren und zu verkaufen. Aber die Wirkung von Valium auf die Psyche ist eine ganz andere Sache, die seelische Realität der Wirkung chemischer Substanzen ist eine eigene Perspektive, die durch die Strukturformel nicht gänzlich verstanden werden kann.

Im Geist der mathematisch-musikalischen Einheit, wie sie seit Pythagoras in den mittelalterichen sieben artes liberales (quardivium: Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie und trivium: Grammatik, Rhetorik, Dialektik) noch herrschte, hat anfangs des 17. Jahrhunderts der deutsche Universalgelehrte Athanasius Kircher (1601-1680) sich unter anderem auch der Konstruktion von Musikmaschinen gewidmet.

Seine Entwürfe umfassen Skizzen von riesigen Musikorgeln, die auf dem bekannten Pianolawalzen-Prinzip beruhten, und den Bau einer Kompositionsmaschine arca musarithmetica (thematisiert in seinem Werk Musurgia Universalis). In der arca geht es darum, dass man Musik durch einen enzyklopädischen Auswahlprozess an Skalen, Harmonien und dergleichen Kompositionen zusammenstellen konnte, also ähnlich wie in Mozarts musikalischem Würfelspiel, nur weniger beschränkt. Es sollen heute noch in deutschen und englischen Museen zwei Exemplare der arca existieren.


Athanasius Kircher

Bild 5: Athanasius Kircher, die arca musarithmetica und der Entwurf einer walzengesteuerten Orgel


Konkreter als Kirchers Entwürfe waren die Maschinen, die der schwäbische Universaltüftler Johann Nepomuk Mälzel um 1800 gebaut hat. Darunter finden sich insbesondere das Mälzelsche Metronom, das noch heute als Tempo-Trigger in der Partitur-Notation und in der Musizierpraxis eingesetzt wird. Interessant ist bei Mälzel, dass dieser Scharlatan mit seinem Schachautomaten intelligente menschliche Leistungen vorzutäuschen versuchte (der Automat wurde von einem kleinwüchsigen, gut imInneren verborgenen Schachspieler bedient). Allerdings hat er mit seinem mechanischen Trumpeter oder mit der Orchestermaschine Panharmonicon Komponisten wie Ludwig van Beethoven angeregt, Kompositionen für seine Musikmaschinen zu schreiben (Beethovens Komposition "Wellingtons Sieg" für Mälzel ).
Panharmonicon

Bild 6a: Johann Nepomuk Mälzels Panharmonicon


Panharmonicon
Schachautomat

Bild 6b: Johann Nepomuk Mälzels Schachautomat


Die Materialisierung musikalischen Denkens in zuweilen extravaganten Instrumenten hat durchaus auch seine humoristische Seite, so etwa in der Riesenharfe von Arthur K. Ferris, einem Landschaftsgärtner in Flanders, New Jersey, um 1938.




Bild 7: Arthur K. Ferris' Riesenharfe um 1938


Wenn man dieses Ungeheuer spontan belächeln möchte, so ist doch die heutige Technologie des Physical Modeling (siehe Kapitel Musikalische Klangobjekte in Synthese und Analyse: Fourier, FM und Physical Modeling in dieser Vorlesung) genau dazu in der Lage: nämlich Instrumente von beliebigen Dimensionen und Materialtypen zu simulieren und deren Klang real zu produzieren.

Wenn es bisher schien, als ob Musik-Instrumente immer nur zur Realisation von Visionen des Musikdenkens gedient hätten, so zeigt die frühe elektronische Musik der 50er Jahre bei Herbert Eimert und Karlheinz Stockhausen, welche damals im Kölner Studio für elektronische Musik arbeiteten, dass diese Maschinen auch Visionen zu kreieren vermochten. Stockhausen brachte Kenntnisse in der seriellen Musik von Paris von Olivier Messiaen mit.

Bild 8: Elektronische Musik (50er Jahre, Köln): Karlheinz Stockhausen


So soll bei diesen Arbeiten die serielle Operation des Parametertausches entdeckt worden sein, weil man zwei Kabel versehentlich vertauscht in die Buchsen gesteckt hatte.

Immer hat sich wie hier die Instrumentaltechnologie auch auf das Musikdenken der Komponisten ausgewirkt. In dieser Tatsache gehen gewissermassen die Sehnsüchte und Phantasien der Komponisten und die technischen Mittel aufeinander zu.

Die Integration des Instrumentes hat allerdings nicht immer zur Vertiefung des Ausdrucks geführt, sondern mitunter durch die Umkehrung des Verhältnisses von Inhalt und Mittel provoziert. So ist das Vorgehen von John Cage eine Art von Querulantentum gegen die stete Verfeinerung der Techniken. Er benutzt etwa manieristisch das Spielzeugklavier als "neues Instrument", oder er komponiert zuallererst am Leitfaden der Uhr, also nicht die Uhr als Tempo-Messer von schon gegebenen Inhalten nutzend, sondern als eigentliche, autonome Produzentin von Musik. Im Extremfall etwa im stummen Stück 4'33'', das nur einen zeitlichen Hohlraum definiert, der schlicht ein Zeitfenster zur Umgebungsakustik definiert.



Bild 9: John Cage als manieristischer Regisseur von Uhrenmusik

Bild 9a: Das Toy Piano von John Cage


Im Gegensatz zu Cage hat der griechische Komponist und Architekt Iannis Xenakis das Interface Musiker-Instrument um eine graphische Dimension erweitert. Um 1975 entwickelte er am Centre d'Etudes de Mathématique et Acoustique MUsicales ( = CEMAMU) in Paris die Unité Polyagogique Informatique du CEMAMU ( = UPIC).


Xenakis

Bild 10, 10b: Iannis Xenakis, um 1975 vor dem UPIC; rechts sehen wir eine Partiturseite der Komposition Mycenae Alpha von 1980 (ca. 43 sec Dauer)


Bei Xenakis wird die mathematische Denkweise des Architekten in das Instrument integriert. Komposition wird auf mikroskopischer (Klangdefinition) und makroskopischer Ebene (Komposition von Klangagglomeraten) graphisch eingegeben. Hier wird das Interface zur eigentlichen Ebene (im wörtlichen Sinne) musikalischen Denkens. Das Instrument trägt den musikalischen Gedanken auf eine Weise, dass derselbe jenseits des Instrumentes nur noch sehr schwer begreifbar oder nachvollziehbar wäre.


Bild 10a: Der Sonic Scanner von Dan Overholt

Im Geist von Xenakis hat auch Dan Overholt 2004 einen Sonic Scanner konstruiert, der aus Bildern Musik macht.


Etwa um 1978 habe ich (damals ohne Xenakis' Ansatz zu kennen) an der Universität Zürich auch erste Skizzen entworfen, Musik direkt graphisch-interaktiv zu gestalten. Bild 11 zeigt eine der ersten Skizzen einer musikalisch interpretierten Bedeutung eines Blumen-Motivs. Die Idee war, dass man in einem zwei- oder dreidimensionalen Koordinatenraum Zeichnungen mit Linien und Flächen in Farbe macht, welche dann als musikalische Objekte in Tonhöhe, Einsatzzeit, Dauer, Lautstärke, Instrumentalfarbe umdeuten und hören kann.


Skizze zu PRESTO

Bild 11: Erste Skizze zu PRESTO


Die Idee dabei war -- anders als bei Xenakis -- die Beutzung von beliebigen affinen Transformationen auf ein solchen Parameterraum (Drehungen, Streckungen, Scherungen, Spiegelungen, Verschiebungen) und den darin befindlichen graphisch dargestellten Klangkonfigurationen. Diese Ideen wurden dann in der Kompositionssoftware presto® in lauffähige Computerprogramme umgesetzt.



Bild 12: Auswahl von presto-Fenster


Bild 12 zeigt eine Auswahl von Fenstern der kommerziellen Software presto für Atari-Computer, welche auf Empfehlung von Herbert von Karajan 1986-1994 entwickelt und verkauft wurde. Wir werden das Konzept dieser Software in Kapitel Computergestützte Komposition: Standard-Sequenzer LOGIC , syntagmatische Software MAX , paradigmatische Software PRESTO noch eingehend besprechen.

Die graphisch-interaktive Eingabe von Musikdaten, vor allem auf der Ebene der Partiturzeichen oder gleichwertiger Objekte (Pianola-Balken etwa) ist heute in allen Standard-Sequenzern ein gewohntes Bild, siehe etwa Bild 13, ein Fenster des Cubase-Sequenzers.


Logic

Bild 13: Standard-Sequenzer heute... (Logic)


Die heutige Computertechnologie hat es auch ermöglicht, Bereiche der Instrumentalmusik, die vorher schwer formalisierbar oder überhaupt fassbar waren, genauen Algorithmen zu unterstellen und so experimentelle Werkzeuge zu bauen, die neue Einsichten oder zumindest Überprüfung alter Urteile ermöglich.

Ein solches Instrument ist die an der TU Darmstadt in den 80er Jahren von Rudolf Wille und seinen Mitarbeitern realisierte Stimmungsorgel MUTABOR ( = MUTierende Automatisch Betriebene ORgel),



Bild 14: MUTABOR I von Rudolf Wille (zweiter von rechts) et al.


MUTABOR wurde weiterentwickelt und dient dem Zweck, musikalische Stimmungen während des Spiels zu ändern. Die Regeln gehen auf die Ideen zur reinen Stimmung von Martin Vogel zurück und erlauben es, bei Modulationen die reine Stimmung der jeweiligen Tonart in Echtzeit anzupassen. Damit wird ein Musikdenken, das am Paradigma der reinen Stimmung orientiert ist, auch instrumental und regelbasiert verwirklicht.

Die Instrumentaltechnologie hat aber auch in der Theorie Aufführungsinterpretation dahingehend ausgebaut werden können, dass man nun feinste Nuancen der Interpretation instrumentell gestalten, verändern und speichern kann. Wir werden diese Entwicklung, die in den Bereich der aktuellen Performance-Forschung gehört, noch eingehend diskutieren.


RUBATO

Bild 15: RUBATO-Plattform, Stand 1996


Bild 14 zeigt ein Flussdiagramm der Software-Plattform RUBATO, welche am Multimedia-Lab der Universität Zürich 1992-1996 entwickelt wurde, und welche nun dort und an der TU Berlin weiterentwickelt wird.

Die Entwicklung all dieser Software-Typen ist nicht nur eine Anwendung bestehender musiktheoretischer, kompositorischer oder ästhetischer Erkenntnisse, sondern erzeugt erst die Bedingungen für Forschungsfelder, welche bis dahin nicht oder nur metaphorisch zugänglich waren. Beispielsweise war vor der Realisierung von Agogik-Programmen auf Computern eine Agogik-Forschung (Tempo-Kurven, Hierarchien von Zeitebenen usf.) illusorisch.

Als letztes Beispiel der intimen Interaktion von Technologie und Komposition in der Musik wollen wir die Performances des australischen Künstlers Stelarc erwähnen, siehe Bild 16. Er arbeitet mit am eigenen Körper angebrachten Robot-Prothesen und elektrischen Kontakten auf der Haut, welche die Muskeln des Künstlers durch Stromstösse von 50 Volt in unwillkürliche Bewegungen und Zuckungen versetzen, interagierend mit entsprechenden musikalischen Klängen, die den Künstler als Tänzer anregen. Der Mensch wird so zum hybriden Wesen, teils Musikinstrument, teils Hörer, teils Interpret, teils Tänzer und teils Komponist.



Bild 16: Stelarc

Siehe auch David Rockeby's Very Nervous System!


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